Leseprobe: Albenzauber

Albenzauber 640pt Vorhin habe ich auf das Knöpfchen bei Amazon gedrückt, und die Printausgabe ist seit gestern Abend genehmigt. Höchste Zeit also für eine Leseprobe von Albenzauber.

Albenzauber enthält: eine Kinderfrau und ihren Prinzen im Exil, eine ebenso machtgeile wie schöne Königin, eine*n abenteuerlustige*n Magier*in mit weiblichen Pronomen sowie echte und gedankliche Gefängniszellen. Außerdem das „Aces sind immun“-Trope.

Amazon hat die Ausgabe für Kindle und den Print, Thalia hat Print und E-PUB und unter anderem Bookrix hat E-PUB und MOBI.

Lang, daher mit Break:

Vorher

Wäre Nives die Königin gewesen, sie hätte sich heute Nacht gewiss nicht heimelig in ihr Bett gekuschelt. Der jüngere Prinz hatte nämlich schon kurz nach dem Festmahl angefangen zu schreien und wollte sich nicht beruhigen, egal, wie viel Windöl Nives auf dem Bauch des armen Würmchens verrieb.

Zu allem Überfluss ließ der Schalldämpfungszauber schon wieder nach. Wenn sie ihn nicht mit neuer Kraft versorgte, würde Cirs Gebrüll den ganzen Palast wecken.

Sie wuschelte dem Kleinen durch die dunklen Locken und ging zur Kammertür. Verflucht sollte König Ferox’ Vorliebe für exotische Nahrungsmittel sein. Warum auch Feigen kochen oder trocknen, wo sie roh doch viel hübscher aussahen? Selbst, wenn sie dafür ein halbes Jahr unter einem Frischhaltesiegel herumlagen.

Und wie immer musste Nives die ganze Nacht am Kinderbett ausharren und mit ihren paar Heilkräften gegen eine Kolik kämpfen. Als Mutter hätte sie in einem solchen Fall gewiss nicht zur Ruhe gefunden.

Wenigstens war Leon, der Ältere, schon beinahe erwachsen und damit aus dem Gröbsten heraus.

Sie legte eine Hand auf den Bergkristall in der Nische neben der Tür. Auch nach so vielen Jahren musste sie sich überwinden, das Ding anzufassen. Sobald sie Macht in das Zaubersiegel darin strömen ließ, fühlte es sich an, als müsste sie durch dichte Spinnweben greifen.

Ferox hatte den Stein nach den ersten durchwachten Nächten mit Leon für ein Messer aus Stahlsilber – Albensilber, ha – bei einem menschlichen Magus gekauft. Es war ein schlechtes Siegel, aber der König wollte nicht vor einem anderen Alb zugeben, dass das Geschrei seines Sohnes ihn störte.

Draußen splitterte Holz, Metall schepperte, dann zitterte der Boden, als hätte jemand eine schwere Tür zugeschlagen.

Nives’ Nackenhaare stellten sich auf. Etwas zog ihr den Boden unter den Füßen weg, eine Vision von ungewohnter Klarheit ließ sie schwindeln, als stünde sie an der Kante über einem Steilhang. Ein Fläschchen mit Schlafmittel, das den Besitzer wechselte, Krieger in den Hallen, Solanus Gannes grinsend auf dem Thron, während seine Tochter Noctuola sich in seinem Schatten die Hände rieb.

Hatte er doch nach all den Drohungen und Unstimmigkeiten der letzten Tage Ernst gemacht. Als wäre es eine persönliche Beleidigung, dass Leon Noctuola nicht zu heiraten wünschte.

Wieso hatten die Magoi König Ferox nicht gewarnt? Im Palast gab es eine ganze Schule für zauberisch begabte Alben, da musste doch eines dieser eingebildeten Wesen eine Vorahnung erhalten haben.

Nives atmete tief ein und öffnete die Zimmertür. Spähte den Gang entlang. Bewaffnete in Gannes-Farben, ein Dutzend mindestens; die Tür zu den Gemächern des Königs und der Königin stand offen, gerade versuchten einige von ihnen, in Leons Zimmer einzubrechen. Der arme Junge musste Todesängste leiden.

Eine einfache Kinderfrau wie sie hatte keine Aussichten, auch nur einen dieser Männer von Cirs Kammer fernzuhalten. Noch etwas sah sie: die Gewissheit ihres eigenen Todes, wenn sie blieb.

Ihr Herz klopfte laut wie die Schläge gegen die Tür weiter unten im Gang. Gleichzeitig schien die Zeit stillzustehen.

Dann wirbelte Nives herum, packte den Winzling samt Decke und stürmte in die andere Richtung, von den Kriegern weg.

Ein Ruf, „haltet sie“; schwere Schritte und klirrende Rüstungen folgten ihr den sanften Anstieg des Gangs nach oben. Endlich der Durchbruch zu der Terrasse, auf der die Frauen bei Hofe im Sommer so gern saßen und nähten. Eisige Nachtluft schlug Nives entgegen, nahm ihr den Atem.

Cir hörte auf zu brüllen.

Die kurze Treppe in den Garten, entlang der kahlen Rosenbüsche, von da aus durch die Hecke. Äste kratzten über Nives’ Gesicht, rissen an ihrem Morgenmantel. Jetzt immer weiter den Berg hinunter, rutschend auf der dünnen Schneedecke. Elende Hauspantoffeln. Einmal fiel sie, landete schmerzhaft auf ihrem Hinterteil.

Hundegebell. Aber wozu? Ihre Spur war ein dunkler Streifen auf den weißgepuderten Wiesen, und Nives rannte. Den nächsten Hang hinauf, über die gerodete Kuppe. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen, ihre Beine wurden schwer. Beim nächsten Schritt würde sie gewiss tot zusammenbrechen, doch da kamen die zwei Felsnadeln in Sicht. Sie zwängte sich hindurch.

Hier draußen war es viel kälter, ein paar Flocken rieselten vom Himmel, und der Schnee lag schenkelhoch. Weiter unten, da, wo keine Wärme aus dem Bann hindrang, würde es doppelt so viel sein.

Cir wimmerte.

Sch“, machte Nives. Was nun? Im Tiefschnee wären ihre Spuren stundenlang gut zu verfolgen. Selbst wenn sie hier vorwärts käme, wäre zumindest der Kleine erfroren, bevor sie den Schutz des Waldes erreichte.

Es blieb Nives nichts anderes übrig, als sich in einer Kunst zu versuchen, die sie jahrelang nicht mehr geübt hatte. Seit Leon keine Aufsicht mehr brauchte.

Also verschnürte sie Cir, so gut es eben ging, und sammelte sich. Griff durch die schimmernde Grenze nach dem Adler.

Schließlich packte sie mit ihren Klauen den Prinzen in seinem Bündel und hob sich mit zwei kräftigen Flügelschlägen in die Luft.

Nach Süden, wo es nicht ganz so kalt war.

1

Weil Nives geahnt hatte, dass Besuch kommen würde, saß sie zum Spinnen neben der Tür der Hütte, obwohl es hier auf der Ostseite nachmittags noch unangenehm frisch war.

Blanda, die den Leinenfaden in Auftrag gegeben hatte, für die Aussteuer ihrer Tochter, würde es wohl kaum sein – Nives hatte ihr gesagt, dass sie nicht vor übermorgen mit so einer Menge Garn rechnen konnte.

Vielleicht brauchte jemand Heilkräuter, Nives’ zweite Spezialität neben den feinsten Fäden im Umkreis von einer Tagesreise.

Doch unter den Bäumen hervor trat schließlich ein drahtiger Mann, der sich auf einen Stock stützte. Obwohl ein Filzhut sein Gesicht verbarg, hätte Nives dieses Humpeln überall wiedererkannt. Vincenzo? Seltsam, denn Cir war erst vor einer knappen Stunde von dessen Hof zurückgekehrt, wo er beim Dachdecken geholfen hatte.

In Rufweite, viel zu weit weg, blieb Vincenzo stehen. Nives legte die Spindel beiseite und winkte ihn näher heran.

Er machte drei Schritte, nahm den Hut ab, drehte ihn in den Händen. Seine Haare leuchteten weiß in der Sonne. Nives blinzelte. Irgendwann in den letzten siebzehn Jahren war ihr Wohltäter alt geworden, und sie hatte es nicht bemerkt.

Setz dich her.“ Auf der Bank war genug Platz für drei.

Vincenzo schluckte und tat wie gebeten. Er nahm das äußerste Ende, wirkte zusammengesunken. Nives kam sich groß gegen ihn vor, und das war, trotz seines kurzen Wuchses, neu.

Kann ich dir etwas anbieten? Wasser, Wein?“

Er schüttelte den Kopf. „Dein Enkel ist unterwegs?“

Nives nickte. Alle hier glaubten, dass Cir ihr Enkel war, wegen ihrer weißen Haare. Sie hatte es nie für nötig erachtet, die Einschätzung zu berichtigen. Dabei hatte sie schon immer weiße Haare gehabt, genau wie ihre Mutter. Und wenn sie ihrem letzten Blick in einen Spiegel trauen konnte, hatte sie kaum mehr Falten als vor ihrer Flucht.

Er sieht nach den Fallen.“

Hm.“

Hat er etwas angestellt?“

Nein.“ Vincenzo strich sich eine Strähne aus der Stirn. „Noch nicht.“

Ach?“

Die Eltern sorgen sich um ihre Töchter, die jungen Männer um ihre Bräute.“

Wie einseitig sie hier immer dachten. Um junge Männer sorgten sich nur Nives und Vincenzo.

Blicke folgen ihm. Es ist besser, wenn Cirrus nicht mehr allein ins Dorf kommt.“

Nives seufzte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis irgendwem auffiel, dass der Lausbub mit den blauen Augen alt genug war, um jemanden mit dem Albenzauber zu verführen.

Nicht, dass Nives Cir so etwas zutraute, und außerdem hatte er es bei seinem Aussehen gewiss nicht nötig.

Ich würde ihn zwar gerne behalten …“

Aber sein jüngster Sohn hatte schon Narben, weil er den restlichen Halbwüchsigen nicht passte. Wenn sich die Familie noch weiter unbeliebt machte, waren die Folgen kaum abzuschätzen.

Vincenzo knetete seinen Hut. „Du verstehst das doch, Nives?“

Sie unterdrückte einen zweiten Seufzer. „Ja. Ja, ich verstehe, dass ihr besorgt seid.“ Aber, bei den Ahnen, wie sollten Nives und Cir ohne dieses Einkommen leben? Der Junge brauchte Stiefel für den Winter und sie einen neuen Mantel.

Du wirst es ihm erklären?“

Ich werde es versuchen.“ Sie legte den Kopf schräg. „Was ist mit den Hühnern?“ Vincenzo hatte Cir zusätzlich zwei Legehennen und einen Hahn versprochen, für zwei Monate Arbeit auf dem Hof.

Davon war erst einer um.

Ich – ihr bekommt die Viecher, sobald er den Stall fertig hat. Es tut mir leid. Er ist ein netter Kerl, aber …“

Kein Mann, den Eltern sich für ihre Tochter wünschen“, sagte Nives. „Ich weiß. Nicht einmal, wenn er ein Mensch wäre.“

Es musste wohl noch verbitterter geklungen haben, als sie es gemeint hatte, denn Vincenzo langte über die Bank und drückte ihre Hand. Dann stand er auf und ging grußlos davon, wieder dem Wald zu.

Nives sah ihm nach. Damals hatte er sie ohne Fragen aufgenommen, als sie frühmorgens an die Tür seines Hofes geklopft hatte. Er hatte dafür gestritten, dass sie und Cir hier in der Hütte bleiben konnten, als alle im Dorf die strige fortjagen wollten.

Mit der Zeit hatten die Leute sich beruhigt, Cir hatte mit ihren Kindern gespielt, aber dennoch.

Sie hätten uns am liebsten los“, meinte Cir.

Da stand er, mit seiner Beute zu Füßen. Ein schwarzes Eichhorn. Der Balg würde einiges einbringen, und das Fleisch war gut für ein Abendessen.

Nives schalt sich für den Gedanken. Es gab Wichtigeres als das Einkommen, das man mit schönen Pelzen erzielen konnte. „Seit wann bist du zurück?“

Lange genug“, sagte Cir. „Nonna …“

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag klopfte Nives neben sich auf die Bank. Cir war blitzschnell bei ihr und drückte sein Gesicht in ihre Schulter.

Es tut mir leid.“ Sie schlang einen Arm um ihn, wuschelte durch seine Haare. Gerade lang genug, um seine Ohren zu verbergen, und damit immer noch länger, als es die Männer in Centerre bevorzugten. Daheim könnte er seine Locken wachsen lassen und mit Indigo die blauen Reflexe betonen. Vielleicht hätte er sogar einen Ring in den Ohren, wie Leon damals. Aber hier draußen war es keine gute Idee, auf seine Andersartigkeit hinzuweisen.

Ich will heim“, sagte Cir nach einer Weile.

Nives starrte die Bäume an. Am Anfang hatte sie einen Versuch mit Fliegenpilzen unternommen, aber in der Vision doch nur bestätigt gesehen, was sie schon längst geahnt hatte: In jener Nacht war die gesamte Königsfamilie gestorben – außer Cir.

Somit war Cir Thronerbe, aber Solanus Gannes würde seinen Anspruch kaum abtreten, denn seine Mutter war eine Salvan gewesen, eine von Ferox’ Großtanten. Bei dem Staatsstreich hatte sie noch kein Jahr unter den Ahnen geweilt.

Obwohl Nives keine Vorstellung davon hatte, wie man vorgehen könnte, ohne Blut zu vergießen, sagte sie: „Irgendwann finden wir einen Weg.“

Das versprichst du mir, seit ich denken kann.“

Manche Dinge brauchen ihre Zeit.“

Cir machte sich los und starrte sie an, die Augen voller Vorwürfe.

Wir sind dort genauso wenig willkommen wie hier.“ Sie waren in der einen wie der anderen Welt fehl am Platz, und im Gegensatz zu den Fahrenden konnten sie nicht einmal die Straße ihre Heimat nennen. „Hab Geduld.“

Cir schnaubte und packte das tote Eichhorn, bevor er sich um die Hausecke verzog.

xxx

Die langsam ersterbende Glut des Herdfeuers warf Schatten an die Wände. Aus den flackernden Schemen schienen Cir jene bösen Geister anzublicken, welche die Menschen so fürchteten.

Wie immer hatte seine Nonna vor dem Lichtlöschen noch eine Geschichte erzählt – passenderweise von einem vertriebenen Albenkönig längst vergangener Zeiten und dessen Geduld – und war dann ziemlich bald eingeschlafen. Sie konnte an den unmöglichsten Orten zu den unmöglichsten Zeiten schlafen. Eine Eigenschaft, die Krieger und Kinderfrauen gemeinsam hatten, behauptete sie.

Wieso blieb sie so ruhig? Sie musste die Drohung hinter Vincenzos höflicher Bitte genauso gehört haben wie Cir. Vermutlich würden die Bauern ihn fortjagen oder zu Brei prügeln, wenn er einem Mädchen auch nur Komplimente machte.

War es zu viel verlangt, irgendwo leben zu können, wo man nicht nur geduldet wurde?

Cir wollte jedenfalls nicht warten, bis irgendwer ihm die Schuld an einem Unglück zuschob.

Er stand auf und ging nach draußen. Sein Atem malte kleine Wolken in die Nachtluft.

Selbst wenn er eine Garantie bekäme, dass er in Pascanova bleiben könnte, würde er nicht hier bleiben wollen, nur mit Nives als Gesellschaft. Über die Jahre hatte seine Nonna den einen oder anderen Antrag bekommen und jeden ausgeschlagen. Sie ließ sich nie darüber aus, ob sie es wegen des Verbots tat, sich mit Menschen zu vereinigen, oder aus dem gleichen Grund, aus dem Cir hier niemanden fand, um herumzuprobieren: Menschen rochen falsch.

Irgendetwas musste passieren, aber Nives schien nicht geneigt, die trügerische Sicherheit ihrer Hütte zu verlassen. Lieber hieß sie Cir einen Hühnerstall bauen. An manchen Tagen schwärmte sie ihm von eigenen Ziegen vor. Vor Jahren schon hatte sie sich in der Armut eingerichtet und mit ihrer Verbannung abgefunden. Trotzdem machte sie ihm den Mund wässrig mit Beschreibungen ihrer verlorenen Heimat und hatte ihm seinen Stammbaum oft genug aufgesagt, dass er ihn auswendig konnte. Er war der jüngste Spross einer langen Linie von Königen.

Dabei hätte Cir nicht viel dagegen gehabt, Bauer zu sein statt Prinz, aber das doch lieber irgendwo, wo er ohne Angst leben konnte. Wo er nicht als wunderlicher Einsiedler sterben würde.

Er schüttelte sich, tastete nach der schimmernden Grenze, die direkt unter seiner Haut lag und hinter der alle seine möglichen Formen schliefen. Langte hinein, hielt die Luft an, als die Verwandlung ihn durch das Schlupfloch zwängte. Schließlich blinzelte er mit Eulenaugen in die nunmehr schwarz-weiße Nacht und schwang sich in die Luft.

Als in einer größeren Stadt im Tal die Glocke an einem Tempel Mitternacht verkündete, setzte er sich in eine Kiefer, um zu schlafen.

xxx

Ein Sonnenstrahl, der durch einen Spalt in der Bretterwand fiel, kitzelte Nives’ Nase so sehr, dass sie niesen musste.

Es war erstaunlich kalt in der Hütte für einen Frühlingsmorgen. Sie setzte sich auf und – Cir lag nicht in seinem Bett.

Vielleicht war er austreten. Oder sich anderweitig erleichtern. Nives zuckte mit der Nase. Es wäre ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, aber wer wusste, was das gestrige Gerede vom Heiraten mit dem Jungen angestellt hatte.

Nun. Die Aussicht auf ein warmes Frühstück würde ihn beizeiten wieder ins Haus locken.

Nives zog sich ihr Kleid über und stand auf, um das Feuer im Herd zu schüren.

xxx

Cir erwachte mit dem Sonnenaufgang. Das grelle Licht störte seine Eulenaugen, also konzentrierte er sich: Ein Milan. Groß genug, um die meisten Jäger abzuschrecken, und für lange Strecken ausgelegt.

Etwa eine Stunde später überflog er die Grenze nach Friedlant. Selbst hier oben in der Luft spürte er die Siegel, mit der diese Menschen sich vor Eindringlingen schützten. Wie das kehlige Knurren eines gefährlichen, aber eingesperrten Hundes.

Vor ihm überschatteten die schneebedeckten Zwillingsgipfel aus Thurs- und Wetterhorn alle Berge in Sichtweite. Die Friedländer unterhielten am südlichen Hang eine Festung, Wolkenburg. Östlich davon erstreckte sich unwegsames Gelände, beschützt von einer baumhohen Steilwand, dem Wall. Auf das Gebiet innerhalb dieser Verwerfung erhoben weder Friedlant noch ein centerrischer Fürst noch die Kitai Anspruch. Ein weites Netz von Tälern, in welche die Menschen niemals auch nur einen Fuß setzten. Im höchstgelegenen davon, weit über der Baumgrenze, befanden sich, laut Nives, zwei Felsnadeln. Das Tor.

Cir drehte nach rechts ab, eine Gruppe von Reitern kam in Sicht, zwei davon in gelben Mänteln. Welche vom Sonnenorden, wenn man den Erzählungen trauen durfte: Die gefürchteten Kampfzauberer des friedländischen Königs. Es gab Witze, dass sie nur deswegen so gut im Kämpfen waren, weil ihr Eid ihnen verbat, es mit anderen zu treiben, und sich deswegen unglaublich viel Frust aufstaute.

Aber wie die zwei so auf ihren Pferden saßen, sahen sie weder besonders frustriert noch gefährlich aus. In Centerre hätte man den Dunkelhaarigen wegen seines Zopfs für unterwürfig gehalten und als Perversen verspottet.

Weit unter Cir kreiste außerdem ein schwarzer Vogel, der eine gewisse Ähnlichkeit mit den Krähen in Pascanova aufwies.

Er ging in den Sinkflug, um den seltenen Gast genauer zu betrachten. Das Tier – es musste ein Rabe sein – ließ sich ein paar Mal umrunden, ohne zu erschrecken. Cir fand sich aus beunruhigend verständigen Augen gemustert.

Am Ende war das hier noch ein anderer Alb?

Doch dann pfiff einer der Reiter. Der Rabe krächzte, legte die Flügel an und fiel wie ein Stein.

Ein Rabe als Haustier? Manche Menschen waren seltsamer, als Cir angenommen hatte.

Mit ein paar Flügelschlägen ließ er die Reiter hinter sich und fand sehr bald die verschwiegenen Täler.

xxx

Als der Rabe auf Heilikas ausgestrecktem Arm landete, plusterte er sich auf. Damit schien er mitteilen zu wollen, dass er keine Angst vor einem Rotmilan hatte.

Ich weiß, dass du genauso groß bist, Rabe“, sagte Heilika.

Hinter ihr schnaufte jemand seinen Spott.

Trotzdem ist er besser bewaffnet als du“, fuhr sie fort.

Der Rabe schüttelte sich und schwang sich wieder in die Luft. Sie folgte ihm mit ihren Blicken. Manchmal beneidete sie ihn um diese Freiheit.

Ein Pferd wurde schneller und schob sich neben Heilikas Wallach. Es war wohl zu viel verlangt, einfach in Ruhe ihre erste Patrouille hier in Wolkenburg reiten zu können.

Berengar, den die Befehlshaberin ihr als zweiten Ritter in diesem Trupp zugeteilt hatte, grinste sie breit an. „Ich dachte, die anderen wollen mich veralbern. Aber das Vieh heißt tatsächlich Rabe.“

Heilika zuckte mit den Achseln. „Er hört auf nichts Anderes.“ Die Götter wussten, dass sie es mit einem guten Dutzend Namen versucht hatte.

Hunde und Pferde kann man umerziehen“, sagte Ritter Berengar. „Da kann es doch mit einem blöden Vogel nicht so schwierig sein.“

Blöd? Dieser aufgeblasene Wicht würde noch staunen. „Wenn Ihr meint.“

Es braucht einfach ein bisschen Willensstärke.“

Tatsächlich.“ Noch so einer, der seine Verachtung für das vermeintlich schwächere Geschlecht nicht allzu gut verbarg. Vor hilfloser Wut begannen Heilikas Wangen zu glühen. „Ihr wart letzten Sommer nicht dabei, nehme ich an.“

Berengar warf sich in die Brust. „Leider nicht. Die Leute hier nehmen es übel, wenn wir den Wall nicht bewachen. Aber Eure Vorgeschichte mit den zwei Tucken ist bis hierher in den Süden gedrungen.“

Heilikas Hände ballten sich zu Fäusten, bis das Leder ihrer Handschuhe knarrte. Sie sollte, nach allem, Tankred und Alea nicht mehr beschützen wollen, aber wie konnte man nur von irgendeinem Menschen so abwertend sprechen? „Habt Ihr Angst vor den Eiern, die diese Tucken bewiesen haben?“

Berengar öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder.

Wie dem auch sei“, fuhr sie fort, denn sie wollte seine Verteidigung gewiss nicht hören, „der da ist ein Rest des Kampfs mit dem Schwarzkünstler.“ Sie nickte in Richtung des Schattens am Himmel. „Und wie Ihr wisst, erfordert Zauberei das Gegenteil eines schwachen Willens.“

Berengar starrte sie eine Weile an, und sie starrte zurück.

Schließlich verriet er sein Unwohlsein, indem er seinen Zopf richtete. „Ihr habt mehr Haare auf den Zähnen als auf dem Kopf.“

Wenigstens war es eine halbwegs einfallsreiche Bemerkung über Heilikas jungenhafte Frisur. „Im Gegensatz zu anderen behaarten Zähnen haben meine Rückendeckung.“ Sie wandte den Blick nicht ab. Ritter Berengar musste genau wie sie spüren, dass sie mehr Zauberkraft zur Verfügung hatte als er.

Mit einer Grimasse ließ er sich zurückfallen.

Aus reiner Gewohnheit vergewisserte Heilika sich, dass der Rabe ihnen folgte, und unterdrückte ein Seufzen. Wenn es so weiterging, würde sie auch hier in Wolkenburg keinen Anschluss finden.

2 Gedanken zu „Leseprobe: Albenzauber

  1. Pingback: Eine Welt, in der es keine Worte gibt … – Nixblix´ simple Sicht der Dinge

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