Mythen, Bibel, Märchenbuch

Derletzt fand in eine von mir besuchte queere Runde eine Person, die sich als fromm evangelisch entpuppte. In derselben Runde ist es selten, dass sich wer so offen zum gläubigen Christentum bekennt.

Jedenfalls spielte ich dreißig Minuten lang Taxi nach Hause, der betreffende Mensch war recht gesprächig, und so beklagte er unter anderem, dass ihm bei einer Gelegenheit gegenüber knallhart gesagt wurde, die Bibel sei ein Märchenbuch. Also nicht nur so im Internet, sondern direkt ins Gesicht.

Woher kommt der Vergleich von Bibel und Märchen?

In unserem Kulturkreis findet das Wort „Mythos“ selten in seiner ursprünglichen Form Verwendung. Das DWDS spricht von „mündliche oder auch schriftliche, sagenhafte Überlieferung der Vorstellungen eines Volkes aus seiner Vorzeit, besonders über die Welt, Götter und Menschen“. Das alte Rom, gegen dessen Religion sich das Christentum am vehementesten zu wehren hatte, kannte zahlreiche Mythen, das antike Griechenland sowieso (mit sich widersprechenden Weltentstehungsgeschichten zudem), genau wie alle anderen Kulturen außenrum auch. Und niemand von den Menschen damals „glaubte“ im klassischen christlichen Sinne irgendetwas, verehrt wurde oftmals ein buntes Mit- und Nebeneinander. (Von Hans Schuhmacher gibt es einen kurzen Abriss darüber, was immanente Gottheiten bedeuten, beim Rabenclan.)

Uneindeutige Aussagen sind jedoch ein Gräuel für das Christentum, in dem „Glaube“ an eine bestimmte Lehre und vor allem eine bestimmte Gottesvorstellung so wichtig ist, dass immer wieder Schismen auftraten. Die ältesten noch erhaltenen Abspaltungen von dem, was mal Katholizismus und Orthodoxie und die Evangelischen und Reformierten Kirchen und was nicht all werden würden, sind wohl die Armenische Apostolische Kirche und die Koptische Kirche. (Bei einer geführten Reise nach Armenien versuchte die Reiseleitung den Unterschied der Varianten zu erklären. Ich habe einen Aufsatz darüber gelesen, worüber sich Orthodoxie und Katholizismus verkracht haben. Ich verstehe beides nicht.)

Und na ja, die meisten modernen liberalen Christ*innen werden wohl Mythen wie die Vertreibung aus dem Paradies oder das mit Noahs Arche als solche benennen (oder als Gleichnisse oder bildhafte Beschreibung eines Glaubensinhalts oder wasauchimmer, aber nicht! als Sage), aber Jesu Leben und Auferstehung muss eins als mindestens spirituellen Fakt annehmen, sonst kann eins das mit dem Christentum mit seinem Gepoche auf Glauben auch gleich sein lassen.

Demnach hatte das Christentum über Jahrhunderte nichts Besseres zu tun, als all die anderen Mythen, gegen die es antrat, lächerlich zu machen und/oder als Aberglaube zu verunglimpfen. Haha, die haben geglaubt, dass da ein Typ mit Flügeln an den Fersen die Seelen Verstorbener in die Unterwelt bringt. Oder dass ein Typ auf einem Berg sitzt und Blitze schleudert. Wie rückständig.

Bestenfalls waren solche Mythen noch als Sagen akzeptabel. (Homer! Ovid! Sogenannte klassiche Bildung und so …) Aber in der heutigen Welt ist die Unterscheidung zwischen Sage und Märchen nicht mehr genau gezogen, zumal sich das Personal manchmal nicht unterscheidet. Die nordische Mythologie hat jedenfalls mehr Zwerge zu bieten als die sieben bei Schneewittchen.

Und all die Jahrhunderte der Weigerung, die eigene Heilige Schrift als die Mythensammlung zu akzeptieren, die sie ist, und die gleichzeitige Diffamierung anderer Mythen als „bestenfalls Sagen“ oder gleich als Märchen ist dann meiner Mitfahrperson auf unschöne Weise auf die Füße gefallen.

Die Moral von der Geschicht‘ darf sich das geneigte Publikum selbst zusammenbasteln oder es sein lassen.


Bild: Poetin von Pompeji via Wikimedia Commons.

Lektüre mit Fragezeichen

Ich habe 2023 zu viel Fanfiction gelesen (aber immerhin auch welche veröffentlicht). Eins der Bücher, die ich zur Hand nahm, war Christian von Asters „Harem der verschleierten Geschichten“. Grober Inhalt: Ein Dichter wird von einem offenbar begüterten, aber namenlosen Fremden beautragt, Geschichten aus dem Harem des Sultans zu erzählen. Nach einigen Wirrungen gelingt es dem Dichter, den verbotenen Ort zu erspähen. Er lauscht den darin lebenden Damen und schreibt von sechs die Geschichte auf (oder zumindest, was wer glaubt, dass ihre Geschichte ist).

Ab jetzt Spoiler, wer also lieber selbst liest, klicke „zurück“.

CN: Alles, was ein „Harem“ so impliziert.

Wie von Herrn von Aster gewohnt ist die Prosa so gedrechselt wie sinnenfroh, und die farbigen Illustrationen dazu können sich ebenfalls gut sehen lassen.

Am Ende stellt sich heraus, dass der Sultan selbst den Auftrag gab, da er in seiner Position nicht in der Lage ist, mit den Frauen in seinem Harem auf Augenhöhe zu sprechen und daher auch nicht sicher sein kann, dass sie ihm ihre ehrliche Meinung sagen bzw. ihre wahre Lebensgeschichte erzählen. (Wobei wie gesagt offen bleibt, ob der Dichter sich nicht einfach was zusammendichtet.)

So weit ist die Lehre daraus nachvollziehbar. Machtgefälle laden nicht gerade zu offener Kommunikation ein. Trotzdem lässt mich der Text etwas kopfkratzend zurück. Die Atmosphäre eines „orientalischen Märchens“ ist mir grade ein bisschen zu Karl-May-artig und zu wenig märchenhaft erzählt, um sie nicht als ernst gemeint (und damit für meinen Geschmack wacklig auf dem Grat des Orientalismus) zu lesen. Zumal „Harem“ — tja. In der Story sitzen die meisten beschriebenen Damen da freiwillig drin. Wie das im 19. Jahrhundert in echt war, ist schwer zu beurteilen, da die Geschichte ja nicht von den Insassinnen geschrieben wurde. Wir haben keine Ahnung, wer da freiwillig war, wer sich dreinschickte und wer lieber woanders gewesen wäre. Hort der Romantik oder Verklärung sexualisierter Gewalt? Beides vermutlich in wechselnden Anteilen. Derlei Ambivalenz fehlt mir bei dem Handlungsort ein wenig.

Angeblich ist das Buch auch ein poetisches Gleichnis über Tücken und Zauber der Schönheit. Bei der Sache stehe ich auf dem Schlauch, muss ich sagen. Könnte daran liegen, dass ich ace bin und auf menschliche „Schönheit“ wohl anders reagiere als das Zielpublikum. Verzaubern muss mich anderes.