A_sexuelles Erzählen oder: Philosophie gegen Neurowissenschaft

oder: „Making Something out of Nothing“ gegen mein gesammeltes Wissen aus „Wired for Story“ und als eine, die Romane lieber schreibt statt analysiert.

 

Andrea Mantegna 017

Im Gegensatz zu St. Lukas bin ich keine Heilige und kann auch nicht mit einer Feder schreiben

Ich las also die verlinkte Dissertation, die behauptet, dass Asexualität als „Nicht-Erfahrung sexueller Anziehung“ und die klassische Form des Erzählens diametrale Gegensätze seien.

Ich versuche mal, die Argumente nachzuvollziehen.

1) Geschichten sind gerichtete Bewegungen

Dem will ich nicht widersprechen. Seit Aristoteles wissen wir: die Menschheit bevorzugt Geschichten, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Ohne selbiges Ende stünden ja der Anfang und die Mitte einfach so im Raum herum, und, noch schlimmer, die Leute hätten sich emotional für etwas engagiert, das zu keinem Abschluss kommt, ihnen also Zeit und Aufwand gestohlen hat, die sie besser für etwas anderes eingesetzt hätten.

Sich emotional für eine Story zu engagieren, macht ja gerade den Reiz an der Sache aus. Im Grunde ist dieses Mitfühlen und Miterleben für das menschliche Hirn eine Probe für den Ernstfall – Was tun bei einer Zombieapokalypse? Wie überstehe ich eine Entführung oder ein Familientreffen mit Leiche?

Deswegen mögen die meisten Leute gerne Geschichten.

2) Asexualität ist nicht zielgerichtet

Zumindest, was die sexuelle Anziehung angeht, so ominös das Konzept auch manchen erscheinen mag, zeigen Asexuelle in keine Richtung.

Manchen Leuten fällt es schwer zu begreifen, dass Leute, die keinen Sex wollen oder keine Menschen begehren, trotzdem andere Dinge wollen können, und dabei 100% nachvollziehbare Motive haben.

Weil a_sexuelle Menschen ja „no fun“ sind, bestreitet Stephen Moffat, dass Sherlock aus der BBC-Serie ace ist.

Jedenfalls: Manche Leute finden a_sexuelle Menschen undurchsichtig oder langweilig – dabei entsteht nur die Hälfte der Spannung „Sex & Crime“ durch Sex ;)

3) Romane dienen der Enthüllung, und A_sexuelle haben nichts zu enthüllen

Mein Vorstoß in diese Richtung wurde letzte Woche von gleich zwei Menschen elegant außer Kraft gesetzt, daher: Es gibt einen Haufen Dinge über Menschen und die Gesellschaft zu enthüllen, und nicht alle haben mit Sex zu tun, vielen Dank.

4) Geschichten sind erotonormativ und stehen daher im Widerspruch zu Asexualität

Jetzt wird es wild. Also, Geschichten haben ein Ende, es sei denn, es handelt sich um eine seit zehn Jahren laufende Seifenoper oder gewisse Fanfictions, die genauso funktionieren und schon fünf Millionen Wörter in 768 Kapiteln haben.

Weil dieses Ende also ein unvermeidliches Ziel des Erzählens ist und zumeist dazu dient, die Zuhörer*innen bzw. Leser*innen befriedigt zurückzulassen, können wir es mit gutem Hetero-Sex vergleichen, und weil es danach nicht weitergeht, also mit dessen „natürlichen“ Ende, dem männlichen Orgasmus. Daher der Begriff „erotonormativ“, analog „heteronormativ“.

Gesetzt den Fall, der Vergleich ist legitim und das klassische Geschichtenerzählen tatsächlich ein Fall von patriarchaler Struktur, dann wirkt A_sexualität quasi wie ein fehlendes Rädchen im Getriebe: Wo keine Richtung, da keine natürlich fließende Story zu einem natürlichen Ende.

A_sexualität könnte also eventuell dazu dienen, die Erwartungen an eine solcherart patriarchale Erzählweise zu queeren, aber wie?

5) Die Autorin unterließ es aus Protest gegen die Erotonormativität, eine Schlussfolgerung zu schreiben.

6) Eigenes Fazit

Durchaus eine interessante Theorie. Allerdings, aus Sicht der Handwerkerin: Die Leute hören nicht gern zu bzw. sind verärgert, wenn sie wissen bzw. merken, dass alle Spannung keine Lösung hat, und sie hören überhaupt nicht zu, wenn sie nicht wissen wollen, wie es weitergeht.

So viel zu weiteren Gemeinsamkeiten mit Sex. Im Gegensatz zu Sex ist die Spannung in Stories aber immer künstlich erzeugt, genau wie der Anfang und das Ende der Story. Die Kunst der Erzählens liegt auch darin, die Leute vergessen zu lassen, dass sie einem Kunstprodukt zum Opfer gefallen sind. James N. Frey spricht hier von fiktionalen Träumen, die Schreibende und Lesende gemeinsam erzeugen.

Nur, weil das nachher organisch wirkt, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Anfang und das Ende im Idealfall sehr willkürlich gewählt sind, und zwar, um die beste Story zu erzählen, die sich aus einem gewissen Material erschaffen lässt.

Keine Story hat ein „natürliches“ Ende – höchstens eines, das sich natürlich anfühlt.

Anstatt also die Leute mit Werken zu quälen, die sie sowieso nicht lesen würden, schreibe ich dann also doch lieber Stories mit einem Ende. Das heißt aber nicht, dass ich dabei die (heteronormativen) Erwartungen des Publikums nicht queeren kann.

Nicht alle Paare müssen heiraten oder in den Sonnenuntergang reiten oder mit Kindern glücklich sein, es muss nicht mal ein Paar sein, und Sex? Sex muss in der Beziehungsfindung auch keine Rolle spielen, sofern ich nicht alles auf dem Kopf stelle und das glückliche Ungebundensein oder eine erfolgreiche Entliebung zum Ende erhebe.

Tagesgeschehen vs. Geplantes

 

Meine letzte Woche war gespickt mit Alltagskram und Veranstaltungsvorbereitungen, daher hatte ich wenig Zeit und Nerven, mich um den Anschlag in Orlando zu kümmern, und noch weniger, das Geschehen zu verarbeiten, geschweige denn über deren Tragweite nachzudenken. Eigentlich hatte ich für heute einen Schreibtmetapost in der Pipeline.

Je nach dem, wie die eigene Blase im Web aufgestellt ist, fühlt eine sich mal mehr, mal weniger verpflichtet, auf etwas zu reagieren. Abgesehen davon hat die Reaktionsfreudigkeit meiner Online-Blase auf terroristische Aktionen gefühlt ziemlich abgenommen. Mensch stumpft ab, anders lässt sich das Leben auch nicht ertragen.

Dennoch. Orlando geht an die Nieren, weil es eben nicht Leute traf, die zufällig gerade an einem belebten Ort waren, sondern weil gezielt auf eine Gruppe losgegangen wurde, die sowieso schon weniger Freiräume hat – an einem dieser mühsam erkämpften Freiräume. Freiräume, in denen ich mich ebenfalls gelegentlich aufhalten darf.

Klügere Leute als ich haben mehr dazu zu sagen …

Auf Englisch meint asexual feminist:

To give ISIS credit is to dismiss our own complicity in this attack. Mateen was an American citizen, fed on our values of homophobia and xenophobia.

„Dem IS dafür die Verantwortung zuzugestehen, heißt, unsere eigene Beteiligung an diesem Angriff zu verharmlosen. Matteen war ein amerikanischer Staatsbürger, der unsere Werte von Homophobie und Fremdenhass verinnerlicht hatte.“

Geflügel mit Worten schreibt über Freiräume und über den Opportunismus diverser politischer Gruppen, die den Anschlag für ihre eigenen Ziele nutzen möchten (persönlich zähle ich den IS dort dazu):

Und mir persönlich ist es wumpe, ob mich Islamisten erschießen oder Rechte tottreten, dafür, dass ich liebe, wen ich liebe, und bin, wer ich bin.

Und auch beim Zaunfink geht’s wie immer ans Eingemachte dieser Gesellschaft:

Überall müssen wir uns anhören, was wir jetzt tun müssen oder gerade eben nicht tun dürfen, weil sonst „die Terroristen schon gewonnen hätten“ oder gar, weil wir es „den Opfern schuldig“ seien. Und damit tun wir ironischerweise genau das, was die Terrorist*innen wirklich wollen, nämlich, unser Leben, unser Sprechen, unser Denken für einen recht ausgedehnten Zeitraum vollständig auf den Terrorismus und seine vermeintlichen Ziele zu konzentrieren. Wir übernehmen dabei eine Logik und Rhetorik der Angst und des Kampfes, und auch das ist genau so gewollt.

Insofern – wer weiß, ob dieser Linkspam klug war …

ETA: ReadOn stellt Fragen, die wir uns, ganz im Sinne des Zaunfinken, auch öfter mal stellen sollten:

Und warum zur Hölle wenn sie schon so am Vaterland hängen, gründen sie keinen Verein, der Bäume in öden Straßen pflanzt, Kinder die das Meer nicht kennen zum Strand fährt oder englische, iranische oder turkmenische Lieder studiert? Warum wenn sie doch G*ttes Namen immerzu im Munde führen, warum singen sie nicht im Kirchenchor oder backen Kekse für den Anbau einer neuen Moschee?

Produktiv aktiv(istisch) sein. Für statt gegen. Sollte doch machbar sein, oder?

Patriarchat bei der Arbeit:

Aesculap-serpentine

Wenn die unverheiratete Frau mit dem antibiotika-verursachten Vaginalpilz lieber zur Frauenärztin geht, um sich mit Fluconazol-Kapseln zum Einnehmen ihre Leber zu vergiften, statt mit ein paar freiverkäuflichen und wesentlich harmloseren Tabletten zum Einführen ihr Jungfernhäutchen zu gefährden.

(So viel kann ich gar nicht fressen, wie ich kotzen möchte.)

#HydraCap oder: Enthüllungen

Das Marvel-Fandom ist ein wenig in Aufruhr, da sich in der neuesten Auflage des Captain America-Comics Steve Rogers als ein Hydra-Anhänger entpuppt. Damit gehört er also zu jenen bösen Nazis, die er ursprünglich bekämpft hat. (Alle Informationen aus zweiter Hand, denn ich lese keine Comics.)

Aus diesem PR-Disaster lässt sich etwas lernen für’s eigene Schreiben.

Wenn ich so lausche, sind die viele Fans enttäuscht bzw. extrem verärgert, weil Steve Rogers als irischer Einwanderer von zwei jüdischen Künstlern entworfen wurde, und damals irische Einwanderer in den USA als Ethnie wenig besser als Kakerlaken angesehen wurden. Der blonde, blauäugige Hüne, der da seine Probleme mit der Befehlskette hat, lief somit als ein metaphorischer ausgestreckter Mittelfinger an alles Nazi-Übermenschentum.

Es wird mitunter dazu aufgerufen, die weitere Comicserie zu boykottieren, und ehrlich, ich kann das verstehen. Aber nicht, weil das ein Verrat an der Figur ist, sondern weil es sich dabei höchstwahrscheinlich um mieses Geschichtenerzählen handelt. Zwar behauptet einer der zuständigen Redakteure, dass das seit zwei Jahren in Planung war, aber offensichtlich haperte es mit den Hinweisen bis dorthin so, dass die Wendung selbst treue Leser*innen aus dem toten Winkel überrollt hat. Die beste Intention, Amerikas Chauvinismus einen Spiegel vorzuhalten, nützt dann auch nichts mehr.

Stellen wir uns das in Romanform vor: Ein Epos von 1000 Seiten. Auf Seite 500 entpuppt sich die überaus liebenswerte Hauptfigur als Agentin des Erzschurken (TM). Keiner wusste davon, es ist eine absolute Überraschung, vor allem für die Leser*innen.

Die Leser*innen sind enttäuscht und verärgert, es hagelt miese Kritiken, die Autorin ist entsetzt, dass keine*r ihre Große Enthüllung zu schätzen weiß. Falls ein Verlag das Werk unter Vertrag hat, ist er selbst schuld, denn das Lektorat hat gepennt.

Warum?

Als Autorin weiß ich von Seite 1 an, dass meine Hauptfigur für den Gegner arbeitet, also muss alles, was sie tut, egal wie tief Undercover sie ist, von diesem Wissen beeinflusst sein. Die Hauptfigur wartet vielleicht auf ein Signal des Erzschurken (TM) oder versucht, an eine gewisse Information zu gelangen. Sie wird darüber nachdenken. Tatsächlich wird sie einen Großteil ihrer Denkkapazität darauf verwenden, nicht enttarnt zu werden. Eventuell plagen sie Gewissensbisse etc.

Wenn ich aus Sicht der Figur erzähle, egal ob in der ersten, zweiten oder dritten Person, und keinen einzigen Hinweis auf den bevorstehenden Verrat gebe, sind die ersten 500 Seiten des Romans absolut unglaubwürdig und bar jeder Bedeutung für den Rest der Story.

(Ähnlich rechnet hier Alena Coletta einen Plot-Twist in „Magisterium“ durch, nur, dass dort nur 39 Seiten verschwendet wurden.)

Im Fall einer absoluten Überraschung verfehlt die Figur außerdem den „Würde X wirklich …?“-Test, den James N. Frey empfiehlt, um die Handlungen von Figuren zu hinterfragen, und den auch Leser*innen unbewusst auf alles anwenden, was in einer Geschichte passiert.

Di*er Autor*in hat ihr Publikum demnach so sehr verarscht, dass es sich weigert, ihr/ihm die Entwicklung abzukaufen – so etwas sollte ich nur tun, wenn ich das Publikum verarschen möchte und es mir völlig egal ist, dass hinterher keiner mehr etwas von mir lesen will.

Als Autor*in lebe ich nämlich davon, dass die Leute mir glauben, also sich auf den fiktionalen Traum einlassen und mit den Figuren mitleiden. Dazu muss ich ihnen versprechen, dass alles, was ich geschrieben habe, eine Bedeutung hat, und dass ich die Zeit meiner Leser*innen nicht verschwende. „Unglaubwürdig“ ist das Todesurteil jeder Geschichte.

Außerdem verschenke ich massenweise Spannung. All die inneren Konflikte, all die äußeren Konflikte, von denen nur die Hauptfigur ahnt? Wieso sollte ich dieses Potential für 500 Seiten bedeutungsloses Geplänkel unterschlagen?

Aber, mag wer einwerfen, was ist mit unzuverlässigen Erzählstimmen?

So etwas gibt es, ja. Aber: Die funktionieren auch nur, wenn ich sie als solche markiere. Meine Fiammetta in Albensilber ist beispielsweise dank ihrer Jugend eine unzuverlässige Erzählerin. Andere Beispiele wären eine Person mit Lernbehinderung oder eine, die sehr eindeutige Meinungen zu gewissen Bevölkerungsgruppen hat. Outet sich meine Hauptfigur innerhalb der ersten Seite durch einen Kommentar als homophob, können wir davon ausgehen, dass sie nicht ehrlich ist, wenn es um Schwule geht.

Fazit:

Große Enthüllungen müssen gut vorbereitet sein – das Publikum muss eine faire Chance haben, sich die Hinweise wenigstens im Nachhinein zusammenzusuchen, selbst wenn sie quasi nebenbei eingestreut sind und völlig bedeutungslos erscheinen.

Andernfalls ist es das gute Recht des Publikums, dem/der Autor*in mangelnde Erzählkunst vorzuwerfen, denn diese*r hat eine gute Geschichte einem „Ällabätsch, guckt mal, wie clever ich bin“-Moment geopfert.

Und sagen wir mal so: In einem riesigen Fandom wie Captain America ist das jetzt keine allzu brilliante Idee.