Derletzt wurde ich zu meinem ehrenamtlichen Thema per Telefon befragt, und da fiel dann mal wieder diese Phrase von der übersexualisierten Gesellschaft. Leider kam dann das Gespräch wie so häufig auf mein Privatleben (es lebt, danke …) statt auf diese Theorie, dass in der Öffentlichkeit zu viel Sex sei.
Ich mag sie nicht. Oder besser: Ich glaube, sie schießt am Ziel vorbei.
Einige Beobachtungen zum Thema Sex
Stellen wir fest: Sex ist offensichtlich ein interessantes Thema. Die Menschheit zerreißt sich darüber den Mund, seit sie existiert.
Stellen wir weiterhin fest: Grundsätzlich muss ich nicht mit Details aus anderer Leute Intimleben an jeder x-beliebigen Ecke überfallen werden, aber ich finde es sehr in Ordnung, wenn ich an x-beliebigen Ecken erfahren kann, was es alles gibt und wo sich die Details verstecken. Ein solches, möglichst vorurteilsfreies, Grundrauschen an Information ist meines Erachtens diesbezüglich notwendig.
Wenn ich weiß, was es alles gibt, kann ich über mein Leben ein wenig besser entscheiden, als wenn ich nur hinter vorgehaltener Hand Halbwahrheiten und Gerüchte zu hören bekomme, während im Vordergrund irgendetwas von vaterländischer Pflicht, Gottesfurcht oder derlei gesalbadert wird.
Die sogenannten „besorgten Eltern“ sind gegen diese Art von informativem Grundrauschen, das macht sie mir sehr suspekt.
Mir fällt aber auch auf: Mit dem Versprechen des Begehrtwerdens wird heute ein Haufen Werbung gemacht. Begehrenswert sein stellt zwar schon immer einen Wert dar, aber früher gab es nicht so viele Kanäle, auf denen nackte Haut versendet werden konnte.
„Begehrt werden“ wird schon lange mit „geliebt werden“ verwechselt (siehe all die „amore“ aus den Mozartopern) und mittlerweile auch mit Glücklichsein. Somit ähnelt das „Begehrenswert sein“ einer Karotte an einer Angel, die immer knapp außerhalb der Reichweite des Pferdes der Verbraucher*innen baumelt, denn der perfekte Body in der perfekten Verpackung ist schon per Definition außer Reichweite.
Mir fällt auch auf: Was eins im Bett mit einer oder mehreren anderen Personen treibt, wird nicht ausschließlich als eine Frage des persönlichen Geschmacks wahrgenommen, sondern als Ausdruck der Persönlichkeit, der den echten, wahren Wesenskern eines Menschen freilegt.
Nazis und Kommunist*innen können gleichermaßen gern, sagen wir, schwarze Oliven oder Sushi mögen, und niemand wird behaupten, dass sich das widerspricht.
Reden wir aber von Fesselspielen, bei denen so viel Einverständnis wie möglich zwischen den Beteiligten herrscht … dann sieht es anders aus. So jemand muss doch progressiv sein und auf Gleichberechtigung überall stehen? Oder?
Wie kann eine Frau, die mit einer Frau zusammenlebt, AfD-Spitzenkandidatin werden? Wieso ist eine Autorin, die über schwule Paare schreibt, krass rassistisch? Wieso vertreten nicht alle a_sexuellen Menschen queerfeministische Positionen?
Das passt doch nicht zusammen? Oder?
Allgegenwart plus (Über)bewertung gibt?
Aus dem Wunsch nach Begehrtwerden und dem Mythos vom echten, wahren Persönlichkeitskern bauen wir neue Normen auf, die nirgends stehen und deswegen umso perfider wirken. Hier steht kein schwarzberockter Pfaffe mehr auf der Kanzel und predigt wider die Unzucht (und setzt dabei wenigstens klare Grenzen), sondern Schreibende stellen Listen auf von Dingen, die mensch unbedingt mal getan haben muss, Gesundheitsmagazine trompeten hinaus, dass Sex gesund sei und welche Stellung wie viel Kalorien frisst, Frauenzeitschriften ergötzen sich an Frauen, die ohne BDSM nicht existieren können (statt es nur mal voll progressiv ausprobiert zu haben) und irgendwo verläuft immer noch die magische Grenze zwischen einer voll aufgeklärten, lebenslustigen Frau und der vielgefürchteten Schlampe.
Aber niemand verrät dir, wo diese Grenze genau verläuft, und wie sehr sie von Dingen abhängt, die du nicht beeinflussen kannst. (Wo du aufgewachsen bist, welche Farbe deine Haut hat, wie viel Geld deine Eltern hatten …)
Es gibt auch die Grenze zwischen „langweilig“ und „normal“ oder „normal“ und „schwanzgesteuert“ und noch mehr Grenzen zwischen „normal“ und etwas anderem, aber wer weiß schon, wie viel ich mit wem wie tun muss, um normal und voll aufgeklärt zu sein und auch hier meine politischen Ansichten widerzuspiegeln …
Alles in allem hat unsere ach so fortschrittliche Post-68er-Gesellschaft einen eher unentspannten Umgang mit dem Thema Sex. Obwohl das Thema quasi überall ist. Und das finde ich so was von 19. Jahrhundert.
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Für Leute, die Englisch können, gibt es „The Sex Myth“ zum Weiterlesen.
Sehr wahr gesprochen! Es kann einem schon mächtig auf den Zeiger gehen, wenn die Existenz ausschließlich über das Sexualverhalten definiert wird (Schlussfolgerung: kein Sex, keine Existenz).
Jupp.
Dass Liebe heutzutage generell mit Glück assoziiert wird, ist ja auch so eine Dummheit. Nicht jede Liebe ist das pure Glück, und wer nicht liebt / nicht geliebt wird, dem muss ja nicht zwangsläufig etwas fehlen. (zu müde für gendergerechte Sprache, sorry)
(Ach, wenn ich alle zurechtweisen würde, die sich nicht um gendergerechte Sprache bemühen … ich nutzte sie, ich diskutiere aber auch nicht über Sinn und Unsinn derselben.)
Und ja … zumindest die Romanze scheint sich auch zu einer Art Pseudoreligion entwickelt zu haben, und an den Anforderungen (also: Mach! Mich! Glücklich!) muss sie ja notgedrungen scheitern.
Zu Amatonormativität in der altfranzösischen Literatur will ich irgendwann demnächst mal was schreiben. So ganz neu ist das auch nicht.
Wir dürfen gespannt sein (und ich bitte die Verzögerg zu Verzeihen).
Et voilà :
http://fructusdulces.blogsport.de/2017/06/22/heilung-fuer-die-pfeilwunde/
Leseepfehlung zum Link hiermit gegeben.
Dass in Artikeln zu unserem Thema gern die starke Sexualisierung der Gesellschaft thematisiert wird, hatte ich ja in meinem Vortrag letztes Jahr in Stuttgart auch schon festgestellt. Als Literaturwissenschaftlerin würde ich hier von einer Antithese sprechen, die offenbar bequem in der Hand liegt.
Wenn mir jemand mit „Die Leute sind heutzutage so versaut“ kommt, erzähle ich immer von den Graffiti in Pompeji. In den erhaltenen Inschriften geht es hauptsächlich darum, wer mit wem was gemacht hat.
Eben – die Phrase fiel in der Diskussion mit einer Fernsehschaffenden … und ich so: *eyeroll* Wenn überhaupt, gibt es zuviel falsche Versprechen und zu wenig echte Tatsachen. (Bezüglich Pompeji fällt mir der Nachname „Langerhans“ ein … ähm ja.)