Lockdown-bedingt habe ich mehr gelesen als erwartet, daher eine Teilung zur hoffentlich besseren Übersicht.
G. K. Chesterton: The man who was Thursday — gelesen im englischen Original. Leicht absurder Roman mit für mich enttäuschend christlich-moralisierendem Ende, aber damit hätte ich bei Chesterton wohl rechnen müssen. Inhalt: Ein Poet, der aus Hass auf die Anarchisten (die waren zum Entstehungszeitpunkt 1908 ein echter politischer Aufreger) Polizist geworden ist, kann sich zu einer geheimen Versammlung von Anarchisten schleichen. Dort lässt er sich zu „Thursday“ wählen, einem von sieben Vertretern im Hohen Anarchistenrat. Ein Verwirrspiel mit zahlreichen Maskeraden entspinnt sich bis zum erwähnten Vollwertkost-Ende. Trotzdem: Das mehr als 100 Jahre alte Englisch liest sich flüssig, der Autor wartet mit einigen sehr eindrücklichen Sprachbildern auf, und der Weisheit: Die einzig mögliche Rebellion gegen die Rebellion ist die Vernunft.
Jeanette Winterson: Frankissstein — „Eine Liebesgeschichte“ steht als Untertitel drunter. Ry Shelley, trans Mann und Arzt, trifft Victor Stein, der an künstlicher Intelligenz forscht. Und parallel dazu (und 200 Jahre vorher) schreibt Mary Shelley „Frankenstein“. (Siehe 2019.) Man weiß nicht so recht, wo der Traum anfängt und die Realität aufhört, und dass die Autorin auf Anführungszeichen verzichtet, ist dann so konsequent wie hinderlich.
Irgendwie soll es wohl darum gehen, was Intelligenz ohne Körper und Körper ohne Intelligenz bedeuten, und dass das größte Monster immer noch der Mensch ist. (Und Byron ein Arschloch war.) Gefühlt ist das alles aber trotz seiner teils schönen, beißenden Ironie etwas verzettelt, nur bei Kenntnis aller Anspielungen zu genießen und mit Symbolen überladen. Keine niedrigschwellige Herangehensweise ans Thema. BoobBooks haben eine etwas andere Meinung dazu. Dass die dortige Autorin Mary Shelleys Ich-Perspektive feiert, ich die aber als normal hinnehme, zeigt vielleicht, dass ich von meinem Fanfiction- und eher frauenlastigen Fantasy-Konsum nachhaltig positiv verdorben verdorben bin.
Oscar Wilde: The Importance of Being Ernest — Theaterstück. Oscar Wilde zieht die Oberflächlichkeit seiner Figuren in voller Konsequenz durch und schafft es trotzdem, Einsichten in die englische „bessere Gesellschaft“ im Besonderen und die Menschheit im Allgemeinen auf eine extrem komische Art zu präsentieren. The truth is rarely pure and never simple. („Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach.“ Passt.)
Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandschaften — Roman von 1809. Ein verheiratetes Paar reicher Leute, zwei „Störfaktoren“, in die sie sich jeweils verlieben. Eigentlich könnte man sich unter der Hand oder mit einer Scheidung einigen und zu zwei Pärchen neu sortieren. Aber die Entstehungszeit macht den vier (wie auch Effi Briest) zu schaffen. Also sind am Ende die „unkeuscheren“ beiden (sie haben sich geküsst) tot, außerdem muss ein Kind ertrinken. Es endet mit der Verklärung einer toten jungen Frau zur Wallfahrtsheiligen. Ob die beiden Überlebenden noch zueinander finden, bleibt offen.
Aus Lektorinnensicht hätte ich Herrn von Goethe einige ominöse Tagebucheinträge gekürzt und ihn gebeten, sich das mit dem Gleichnis aus der Chemie noch mal zu überlegen, zumal er es nicht bis zum Ende durchhält. Ansonsten ist der Roman auch formal seiner Entstehungszeit verhaftet, ergeht sich also schwelgerisch in Landschaftsbeschreibungen, Abendunterhaltungen und allerlei mehr. Nichts für Ungeduldige. Wer mit dem Thema etwas anfangen kann und nicht lieber auf moderne Texte zum Thema Polyamorie setzt, bekommt ein romantisches Melodrama und Sittenbild des frühen 19. Jahrhunderts.
Unbekannt: Die Götterlieder der Älteren Edda (einmal übertragen von Wilhelm Jordan, 1889, einmal von Arnulf Krause, 2001) und Die Heldenlieder der Älteren Edda (übertragen von Arnulf Krause, 2001) — Altnordische Mythologie, und daher aus Prinzip so cool wie fesselnd. Statt Simrock gelesen, bzw. zusätzlich. Dabei ist der Krause einfacher zu lesen und die Anmerkungen sind auch für Uneingeweihte aufschlussreich. Außerdem wirft er nicht nach Gutdünken Strophen raus bzw. sortiert welche vom einen Text in den anderen wie Wilhelm Jordan. Sprachlich ist der Jordan etwas beeindruckender, weil er penibel auf den Stabreim achtet, und mit dessen Beherrschung der Autor denn auch im Vorwort angibt.
Roman Rausch: Die letzte Jüdin von Würzburg — Historischer Roman. Passend zu Corona, denn wir treffen Jaelle, die Anfang 1349 knapp dem Pogrom in Straßburg entkommt und sich nach Würzburg begibt, um dort nach Verwandtschaft zu suchen. Als junger Mann verkleidet kommt sie mit Michael de Leone in Kontakt, einem wichtigen Beamten. Als Schreiber soll sie in dessen Haus für den Würzburger Rabbi spionieren, denn die Pest breitet sich in Süddeutschland aus, und es gehen Gerüchte um, dass die Juden die Brunnen vergiften würden. Was planen der Fürstbischof und der Stadtrat deswegen zu unternehmen?
Obwohl ich dank etwas Geschichtskunde, zumal mit Würzburg-Erfahrung, genau weiß, wo mal das jüdische Viertel war (heute steht die Marienkappelle drauf) und bereits diesbezüglich recherchiert hatte, bleibt der Roman bis zur letzten Seite fesselnd. Ein von mir bemerkter Missgriff ist eine Vokalisierung von JHWH, die man einer jüdischen Figur nicht unterjubeln sollte. Jüdische Lesende dürften daher noch über mehr Dinge stolpern, die nicht passen. (Merke: Sensitivity Reading ist nützlich.)
Wir stellen angesichts der Corona-Krise fest (gerade ist April 2020), dass das mit dem Rassismus noch nicht durch ist, auch wenn noch nirgends die Bewohner:innen einer Chinatown niedergemetzelt wurden. Und Verschwörungstheorien feiern auch seit dem Mittelalter fröhliche Urständ. Wo früher Juden die Brunnen vergifteten oder Hexen das Vieh krank machten, will heute offenbar eine ominöse Verschwörung Menschen per Impfung Chips unterjubeln. (Dass kleine Spendenaffären ans Licht kommen, tausende Verschwörer aber allesamt die Klappe eisern halten, egal, ob es um Impfungen, Chemtrails oder sonst was geht und es einen Sauhaufen Kohle zu verdienen gäbe, wenn sie damit an die Öffentlichkeit gingen — Leute. Logik. Wo ist eure?)
Klopapier hingegen scheint der neue Fetisch gegen Viren zu sein. Ansonsten sollten wir uns wohl nicht zu sehr über den Aberglauben der Altvorderen und die Menschen auf dem Wildtiermarkt in Wuhan erheben. Nur weil die einen an Tigerpenisse und Schuppentierreste glauben und Teile meiner Kundschaft an Belladonna in zwölf mal 50’000facher Verdünnung, heißt nicht, dass nicht beides Zauberei ist. (Ich hab nix gegen Zauberei. Ich hab nur was dagegen, wenn jemand behauptet, es sei Naturwissenschaft. Und Tiere dafür töten … meh. Da die meisten nicht wie Thors Ziegen einfach nach der Mahlzeit wieder aufstehen, sollten man meiner Meinung nach echt zweimal überlegen, ob und wofür man Tiere tötet.)
Isa Theobald, Christian von Aster und Cora Linez: Tintenphönix — wunderschön illuminierter Text bzw. Bilderbuch für ausgewachsene und größtenteils ausgewachsene Menschen. Isa Theobald und Christian von Aster setzen sich jeweils auf ihre Art mit dem Leben und Erzählen von Lebensgeschichte auseinander. Sehr berührend und eine Einladung zum Erzählen und Erzählenlassen, bevor es zu spät ist.
Christian von Aster und benSwerk: Felix oder: Früher hießen Tauben anders — eine wie gehabt eigenwillig-sympathisch illustrierte Geschichte über Felix, der wie eine Taube aussieht, aber in Wahrheit eine Fledermaus ist. Und ein Plädoyer auf die Selbstbestimmung, denn: Wenn man erst einmal wusste, wer oder was man war, dann war man das. Ohne dass irgendjemand drüber abstimmen musste.
Ein Satz, den gewisse Kreise durchaus mal verinnerlichen könnten. (Oder: Wie wäre es mal, nicht über die Pronomen einer trans Person zu diskutieren? Oder ob sich irgendwer „queer“ nennen darf, oder … ?) Die Person, die das ausgelesene Buch zum siebten Geburtstag erhielt, hatte jedenfalls einige gute Fragen diesbezüglich.
Bernhard Stäber: Wächter der Weltenschlange I — Jörmungands Erbe — Urbane Phantastik. Der 15-jährige Rune kentert mit seinem Ruderboot auf einem norwegischen See und wird von dessen Geist, Nyk, vor dem Ertrinken gerettet. Allerdings zu einem Preis: Die Schlange im See hat ein einziges Ei gelegt, und er muss es zum Eismeer bringen, sonst stirbt er. Blöderweise sind drei Disen, weibliche Schutzgeister von Midgard, hinter dem Ei her, denn sie behaupten, es sei Jörmungands Erbe, der Ragnarök mit auslösen wird. In die Auseinandersetzung wird die Hauptfigur, Runes ältere Schwester Malin, mit hineingezogen, aber wir müssen bis zum Ende des ersten Bands warten, um zu erfahren, warum sie mehr Seiten erhält als ihr Bruder.
Auch ansonsten wartet der Text mit einem Haufen schöner Haken, brillianter Einfälle und einer glaubwürdigen Figurenzeichnung zweier mutterloser Jugendlicher auf. Aber dass Bernd Stäber Jugendliche ohne Süßholzraspel kann, hat er schon mit Feuermuse bewiesen. Ich freue mich auf die Fortsetzung. Einziger Haken, außer dass es die Serie noch nicht fertig zu kaufen gibt: Ein paar Zeichenfehler, die meinereiner sofort ins Auge sprangen, weil ich für so was bezahlt werde, dem Restpublikum aber nicht auffallen dürften.
Günter Huth: Der Schoppenfetzer und die Silvanerleiche — Würzburger Lokalkrimi. Der Aufbau ist ordentlich und hält die Spannung bis zum Schluss, der Stil liest sich äußerst flüssig. Im Vergleich zu Claudia Konrads hiesigen Lokalkrimis vermisse ich ein wenig, dass man den Dialogen „des Frängische“ nicht anmerkt. In den Dialogen ist kein einziges „fei/frei“! Eine Romanze ist allerdings angenehm abwesend. Ansonsten: Wäre ich Krimi-Fan, würde ich den nächsten Band auch lesen wollen.
Tina Skupin: Valkyrie — Zurück ins Jetzt — Urbane Fantasy. Der Weltenbau geht davon aus, dass alle Gestalten der nordischen Mythologie und skandinavischen Volkssagen „norsische Völker“ sind, die einst über die Menschen herrschten. So auch die Walküre Frida, unsere Ich-Erzählerin. Nachdem sie für ihren Herrn und Gebieter Odin einen Stamm Varäger/Werwölfe verflucht hat, fällt sie in Ohnmacht und wacht tausend Jahre später wieder auf, im Umland des heutigen Stockholm. Asgard ist nirgends zu finden, dafür leben die Norsen jetzt verborgen unter den Menschen. Auf der Suche nach einem Weg zurück nach Asgard stolpert Frida von einem Missgeschick ins nächste.
Ein wenig hätte die Autorin aus Fridas Kulturfremdheit mehr Humor generieren können als aus den zahlreichen popkulturellen Anspielungen, und manchmal fehlte mir der Suspense, der entsteht, wenn ich eindeutig mehr weiß als die Hauptfigur. Ansonsten besticht der Weltenbau mit seiner Originalität, die vielen Figuren sind trotzdem vielschichtig, die Wendungen wissen in ihrer Unvorhersehbarkeit zu gefallen, und die Auflösung ist schlicht, aber es wird genial davon abgelenkt. Ich bin eindeutig gespannt, was weiter passiert.
Jodi Taylor: Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv — Zeitreise-SF. In einer nicht näher bezifferten, aber nicht allzu weit entfernten Zukunft wird die Archäologin „Max“ Maxwell von einem speziellen und gut verborgenen Institut engagiert, um historische Fakten per (gut geheim gehaltener) Zeitreise zu verifizieren. Logischerweise haben einige Menschen im Institut mehr Geheimnisse als andere, außerdem gibt es wohl Konkurrenz aus der Zukunft, die sich einen Dreck um die oberste Regel schert: Verändere niemals die Zeitlinie. (Die nächstwichtige Regel lautet: Hole die Batterie aus dem Rauchmelder, damit das ständige Gepiepse nicht alle nervt.)
Jodi Taylor hat hier ein solide konstruiertes Rätsel aufgebaut, dessen Lösung noch zwei Bände dauert. Hinter all den romantischen Verwirrungen und einer unnötig detaillierten Sexszene tritt der eigentliche Weltenbau leider etwas zurück. Amerika hat seine Grenzen dichtgemacht. Faschisten wurden gewaltsam aus Cardiff vertrieben. Was da wohl passiert ist seit heute? Viel Tiefgang darf eins hier jedenfalls nicht erwarten, dafür wie gesagt gute Unterhaltung.
Isa Theobald und David Gray: Requiem für Miss Artemisia Jones — Horrorkomödie. Die jungfräuliche Bibliothekarin Artemisia Jones wird auf einen einsamen Adelssitz gelockt, wo sie vorgeblich die Bibliothek ordnen soll. Tatsächlich aber braucht eine Bande Satanisten sie als Opfer. Satan, der Jungfrauenopfer sonst reichlich dröge findet, wird von seinen Finsterlingen darauf aufmerksam gemacht, dass diesmal ein „potentiell nerviges irdisches Phänomen“ daraus entstehen könnte. Er und seine beste Freundin Asrael, der Todesengel, beschließen, die Gentlemansatanisten mit ihrer Anwesenheit zu beehren.
Trotz aller ekligen Todesarten und abscheulichen Menschen besticht dieses Buch mit einigen wunderbaren Einsichten: Es gibt nichts besseres, als mit einer sozusagen charaktermäßigen Faulheit gesegnet zu sein. Wer faul ist, der ist nämlich auch gelassen (…). Und vor eurer Gelassenheit hat der Alte so richtig Angst. Die passt ihm nicht, weil gelassene Wesen sich nämlich hin und wieder Zeit zum Nachdenken nehmen und seinem Bluff (…) auf die Schliche kommen könnten.
Dieses Zitat gilt übrigens nicht nur für die Kirche, sondern auch für alle anderen, die hoffen, dass eins in blinder Panik ihre hasserfüllten Parolen nachplappert.
Dazu detailverliebte Schilderungen englischer Landhäuser, okkulter Bücher und einer Hölle, wie Sie sie noch nicht gesehen haben. Ein wenig erinnert das alles an Good Omens, auch vom Tonfall her, ist aber weniger jugendfreundlich. In einem Rutsch weggelesen. Ich freue mich auf die Fortsetzung.
Claudia Speer: Der Normanne und die belagerte Stadt — historischer Roman, dritter in der Reihe, die ich Anfang letzten Jahres las. Der Humor ist hier etwas zurückgeschraubt, im Vergleich zu den Vorgängern. Dafür wuchern Ränke und Intrigen aus jeder Ecke, während Guy of Gisborne, sein Knappe Jakob und die schöne Heilerin Miriam versuchen, das Schwert Excalibur zu Richard Löwenherz zu tragen, damit Guy endlich nach England heimkehren darf.
Auch aufmerksamere Lesende als ich dürften sich in den verschiedenen Fäden verheddern und einige Überraschungen erleben — ich brauchte vor dem letzten Drittel eine Pause, weil mir das zwischendrin echt zu anstrengend wurde. Andere dürfte es eher dazu verleiten, den Roman durchzusuchten.
Neben einigen übriggebliebenen Kommafehlern finden wir hier ein Sittengemälde, das wohl allen Mittelalter-Romantiker*innen die Sehnsucht nach der guten alten Zeit austreiben dürfte.
Joachim Sohn: Sunnie & Pollis Meistererzählungen: Band 1: Aufregung in Dampfstadt — absurde Katzendetektivkomödie mit Steampunkiger SF-Note. Ausführliche Rezension in einem eigenen Artikel.
Christian von Aster mit benSwerk: Der Wasserspeier Fledermeier — illustriertes Buch nicht nur für Kinder. Wie immer gewohnt herzig, und wie immer nicht für Menschen illustriert, die es zuckrig mögen. Über das Angsthaben und das Mitfühlen mit Menschen, die anders aussehen als du.
Christian von Aster: Boar Boys — illustrierte Erzählung über einen Haufen krimineller Leprechauns. Ausgeliehen bei DasNixblix, die das Crowdfunding unterstützte und daher an eins der limitierten Exemplare gelangte. Trotz oder wegen der Panzerfäuste eine wunderschöne und saukomische Ode an die Freundschaft.
Oscar Wilde: The Happy Prince and other stories — Kurzgeschichten, wie der Titel schon sagt. Ein Mix aus Erbaulichem, Traurigem und Gesellschaftskritik. (Nicht, dass die Kritisierten in den Geschichten etwas lernen würden, aber das ist ja leider öfter der Fall, vor allem im realen Leben.) Schönes Englisch mit exzellent ausgeführten allwissenden Erzählenden, wie von Wilde gewohnt.
Queer*Welten, Ausgabe 1/2020 — ein neues Magazin über Queerfeminismus und spekulative Fiktion bzw. phantastische Literatur. Die erste Ausgabe lässt sich mit drei Kurzgeschichten, sehr amüsanter Lyrik und einem Aufsatz über Rassismus bei Tolkien sehr gut an, sodass ich mir sicher die nächste Ausgabe ebenfalls gönnen werde.
Franz Kafka: Die Verwandlung — phantastische Erzählung. Aus mir nicht bekannten Gründen ist Kafka in der Schule genauso an mir vorbeigegangen wie Herrmann Hesse. Diese Erzählung über einen jungen Mann, der eines Morgens als riesiges „Ungeziefer“ aufwacht (wir müssen uns wohl eine Art Assel oder Tausendfüßler vorstellen), gefällt mir bis auf ihr Ende ausnehmend gut. Laut Nachwort war Franz Kafka mit dem Ende ebenfalls nicht zufrieden, aber er hatte wohl kein ordentliches Lektorat, das ihm da unter die Arme greifen konnte.
Diese Geschichte, in der sich immer weiter herausstellt, wie sehr die restliche Familie den Gregor Samsa ausgenutzt hat und wie sie darauf reagiert, dass er auf einmal nicht mehr nützlich ist, kann als Parabel auf allerlei gelesen werden, ob es nun ein Minderheitendasein an sich ist oder auch ganz schlicht darauf, wie eine Familie mit einer Suchterkrankung oder einer Depression umgeht. Weniger als die zahlreichen Beinchen des Gregor Samsa jagt die aus allen Löchern sickernde Lieblosigkeit in dieser Wohnung mir Schauer über den Rücken.
Sachtexte/Biographien (Auswahl):
Anna Wimschneider: Herbstmilch — Autobiographie. Eindringlich trotz oder wegen der einfachen Sprache. Gedanken dazu anderorts.
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. — Das feminisische Grundlagenwerk. Enthält mir insgesamt zu viel Psychoanalyse, ansonsten aber einige nachdrückliche und vor allem sehr kluge Einsichten in die hiesige Gesellschaftsordnung.
Andreas Mang: Aufgeklärtes Heidentum — eine kritische Betrachtung der Begriffe Religion, Gott, Glaube und von allerlei mehr. Erste, noch selbstverlegte Ausgabe. Fazit: Über die Natur von Gottheiten lässt sich trefflich streiten, insofern unterlässt eins das besser. Es hat dadurch schon genug Glaubenskriege gegeben. Die Orthodoxie, also den Glauben wichtiger als die Befolgung der Rituale zu finden, ist übrigens eine Erfindung des Monotheismus. Und: Selbst Odin hätte wohl Probleme mit Nazidenke. (Immerhin ist sein Pferd das Kind seines Blutsbruders.) Und Hitler war schwammig evangelisch und fand Heidentum abgeschmackt.
Anne Otto: Woher kommt der Hass? Über die psychologischen Hintergründe von Rechtsruck und Rassismus. — Eine Tour de Force durch Erkenntnisse zu autoritärem Denken, wie Staat und neoliberale Wirtschaft es befördern (Agenda 2010, irgendwer?), die Medien mit der Suche nach Empörungs-Likes die Sache nicht besser machen, und wo sich alle an die eigene Nase fassen müssen. Keine seelische Streicheleinheit, wie lieb und gut die Lesenden doch sind. Dafür extrem klug. Notiz: Ein zweites Mal lesen und dann ein eigenes Posting dazu.
Beruflich gelesen:
Kirsten Klein: Jaspers Lächeln — Psychothriller mit Heidelberg als Kulisse. Wer auf Thriller steht, findet hier Hochspannung ohne großen Ekelfaktor.
(Die anderen Texte sind für das zweite Halbjahr geplant. Nicht nur wegen Corona.)
Dazu wie immer unglaublich viel Fanfiction.
Zur altnordischen Mythologie siehe auch hier: https://uepo.de/2020/06/27/urquellen-der-fantasy-literatur-islaendische-vorzeit-sagas-erstmals-vollstaendig-uebersetzt/
Ha, das ist ja ein cooler Tipp, das muss ich mir mal näher begucken.
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