Längst überfällig: Ein kleiner Romanexzerpt.

PROLOG
Tief im Süden der Welt war Eis mürbe geworden. Unter jahrzehntelanger Wärme hatte sich eine tiefe Spalte ins Schelf gegraben. Es löste seine frostige Umklammerung um ein Wesen, das gleichzeitig sehr groß, sehr klein, und nicht da war. Ebenso wenig wäre auf naturwissenschaftlichem Wege zu ermitteln gewesen, seit wann das Wesen dort schlief.
Schließlich brach das Eis. Ein Eisberg, fast siebenmal so groß wie Berlin, trieb ins antarktische Meer hinaus, nervös beobachtet von den Menschen. Elektronische Augen am Himmel halfen ihnen, den Fortgang der Ereignisse zu vermessen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit kitzelte nun eine Strömung die Nase des Wesens. Es blinzelte, züngelte. Der Geschmack frischen Salzwassers war ihm aus Vorzeiten bekannt. Langsam wurden seine Gedanken geschmeidiger.
Aus Träumen, da es sich bei seiner Schwester wähnte, geliebt und aufgehoben im Nebel am Ende aller Dinge, erwachte es in Kälte und ungewohntem Lärm. Um das Wesen herum ratterte und dröhnte es. Aber sollte sein Schädel nicht schmerzen? Das war das Letzte, woran das Wesen sich erinnerte: ein Stechen im Gaumen und dann ein Schlag auf den Kopf.
Nein, das stimmte nicht, denn zum Schluss hatte Schwärze es umfangen. Kurz davor hatte es nach dem einen Lebewesen gerufen, von dem die meisten menschlichen und von menschlichem Denken beeinflussten Geschöpfe annehmen, dass es sie ohne Wenn und Aber beschützen wird.
Auch jetzt rief das neu erwachte Wesen.
Mama?
Aber die Mutter rührte sich nicht, wie sie sich auch die letzten Male nicht gerührt hatte.
Blieb eine zweite Möglichkeit, obwohl das Wesen diesbezüglich noch weniger Hoffnung hegte.
Vater?
Irgendwo fuhr jemand aus dem Schlaf hoch. Daher bekam es lediglich ungeordnete Silben zur Antwort.
Vater!, rief das Wesen wieder.
Dabei erschreckte es ein paar Wale.
Deren verwirrte Lieder hörten zwar ein paar Menschen, aber sie wussten sie nicht zu deuten. Und selbst wenn sie die Sprache der Wale verstanden hätten, so hätten sie die Neuigkeiten doch nicht geglaubt.
Jörmungand, die Midgardschlange, schüttelte sich einen Rest Eis vom Körper und schwamm zielstrebig in die Richtung, in der er seinen Vater vermutete. Mit dem hatte er ohnehin noch eine Rechnung offen.
1
Vater?
Loki blinzelte. Dunkles Zimmer. Durch den Vorhangspalt drang das gelbliche Licht einer Straßenlaterne herein. Einer ihrer Bettgenossen schnarchte, der andere hielt Loki fest umschlungen.
Was, bei den Nornen, träumte sie schon wieder?
Vater!
Kein Traum, sondern Jör.
Loki fuhr hoch und rutschte nach hinten. So sehr sie den Klang der Stimme ihres dritten Kindes vermisst hatte, so sollte diese doch nicht ertönen. Warum war Jörmungand aus seinem jahrhundertelangen Schlaf erwacht?
Der anhängliche Bettgenosse – Loki hatte seinen Namen vergessen – brummte unzufrieden.
»Süße?«, fragte er.
Loki zuckte mit der Nase. Süß, ha. Die Menschen hatten keine Ahnung.
»Ich muss los.«
Der Bettgenosse küsste ihre rechte Hüfte – das Erste, das ihm unter den Mund kam. Außerdem verstärkte er seinen Griff. »Was ist mit dem Frühstück, das wir dir versprochen haben?«
»Ein andermal«, log Loki. »Kannst mich ja anrufen.« Sich dem Griff zu entziehen, erforderte mehr Geschick, als die Beine von dem rahmenlosen Bett zu schwingen.
»Hm«, machte der Bettgenosse. »Hätte mich echt auf eine zweite Runde mit dir gefreut.« Finger krabbelten über Lokis Rücken. »Du schmeckst eindeutig nach mehr.«
»Danke.« Die beiden waren nicht untalentiert und hatten keine Scheu, ihre Zungen überallhin zu stecken. »Aber es ist ein Notfall.«
Im Zwielicht tastete Loki nach ihren Klamotten und zog sich an. Die Strumpfhose musste sie in der Eile weglassen, egal wie entzückend sie deren Muster fand.
Der wache Bettgenosse schien die Show so zu genießen, dass er vergaß, nach Lokis Telefonnummer zu fragen. Der andere schnarchte weiter. Sollte Loki recht sein.
Sie schnappte sich ihre Handtasche, warf dem anhänglichen Bettgenossen eine Kusshand zu und schlich aus der schicken Wohnung am Prenzlauer Berg in einen alpinweiß riechenden Hausflur. Im kühlen Licht der LEDs kramte sie ihr Handy aus der Handtasche. Die Batterie war mal wieder tot, insofern blieb die Uhrzeit reine Spekulation. Außerdem fehlte doch noch was, oder? Loki schaute an sich herunter: Minirock und Glitzertop, passende Schuhe mit Stilettoabsätzen. Strumpfhose in der Handtasche. Lederjacke? Im Club in der Garderobe. Wenigstens lag das teure Teil nicht bei den zwei Jungs da drin.
Bei den Nornen, Loki war auch noch nicht richtig wach. Das Drittgeborene brauchte Hilfe und sie sorgte sich um ihre Lederjacke?
Jör?
Papa! Was ist hier los? Warum haben die Menschen Schiffe aus Eisen? Und hier treiben seltsame Algen, die man nicht essen kann.
Sohn. Bitte halt dich von dem Plastik fern.
Was ist Plastik? Ach, was soll’s. Du bist weit weg vom Meer, beklagte Jör sich und klang dabei wie ein kleines Kind.
Ich weiß. Hör zu … Geografie, nicht gerade Lokis Stärke. Ich kann nicht mehr weltenwandeln. Wenn ich dich vor heute Abend an der Küste treffen soll, muss ich erst mit deiner Stiefmutter reden.
Loki spürte, wie Jör innerlich auf Abwehr schaltete. So jung bin ich nun auch wieder nicht, dass ich mich ohne deine Asenbraut in Flüssen verirre, meinte er.
Gut. Je weniger Loki mit Sigyn reden und je weniger sie ihre Noch-Ehefrau um Hilfe bitten musste, desto besser. Sie rieb sich das linke Handgelenk, wo sich der Strang Runen ihrer Fessel unter ihrer Haut abzeichnete. Das Einzige, das von Nari, Sigyns und ihrem Sohn, in dieser Welt geblieben war.
Loki könnte Jör anbieten, gleich zur Spree zu fahren und dort zu warten. Aber ihr Outfit … Sich in diesem Aufzug des Nachts am Wasser herumzutreiben, empfahl sich nicht, wenn sie nicht auffallen wollte. Und die hohen Schuhe waren sowieso zu unpraktisch für alles, auch wenn sie einen geilen Hintern machten. Also würde sie Richtung Alex stöckeln und sich ein Taxi suchen, das sie nach Hause fuhr, damit sie sich umziehen konnte.
Váli hob den Kopf, mühte sich aber nicht vom Bett, als Loki die Wohnung betrat. Das bedeutete, dass er Jörs Ruf nicht gehört hatte. »Sohn.« Danach versagte Loki die Stimme.
Der Junge rümpfte die Nase, denn er konnte gewiss Lokis ganzen Abend riechen. Den Alkohol, den Kunstnebel, das Aftershave der beiden Jungs, die Loki im Club aufgegabelt hatte, den Sex und bestimmt sogar die Geschmacksrichtung der bunten Kondome. Ein Urteil über Lokis Lebenswandel hatte sich Váli seit Langem nicht mehr anmerken lassen. Aber Jör würde kaum den Mund halten, sobald er auf dem neuesten Stand war. Der Junge glaubte vielleicht sogar, dass Loki und Sigyn noch zusammenlebten.
Auf einmal klappte das mit dem Stehen nicht mehr richtig. Loki sank erst gegen die Tür und dann auf den Boden. Dreimal verfluchter Mist. Eine heile Familie waren sie seit Jahrhunderten nicht mehr. Was hatten sie alles geopfert für die Visionen des einäugigen Rabenaases. Und nichts hatte es genutzt, nichts.
Váli erhob sich vom Bett, trottete zu Loki. Ein feuchter Wolfsnasenkuss suchte sie zu trösten.
Loki umarmte das Fünftgeborene und drückte ihr Gesicht in den zottigen Pelz. »Jörmungand ist wach.«
Wenigstens einer konnte sich freuen: Váli hechelte, sein Schwanz klopfte auf den Boden.
»Wieso fange ich jetzt an zu heulen?«, fragte Loki.
Váli schleckte ihre Wange ab und verzog das Gesicht. Das Make-up schmeckte wohl nicht besonders.
»Scheiße.« Loki wischte die Tränen weg. Schwarze Wimperntusche und violetter Lidschatten blieben an ihren Fingern kleben. »Hast schon recht.« Sie beide waren immerhin noch hier, hatten das Christentum, zahllose Kriege, Rufmord und sämtliche Verfolgungen wegen sittenwidriger Unzucht überstanden. »Also eins nach dem anderen.«
Sie kickte die Schuhe weg, stöpselte das Handy am Ladekabel ein, schälte sich aus den engen Klamotten, duschte. Das Bad verließ Loki in einer Gestalt, die Jör kannte und die zu weniger dummen Sprüchen einlud als eine mit Brüsten. Obwohl Loki sich nicht wie ein »er« fühlte.
Loki zog sich ihre älteste Jeans und ihren lila Hoodie an und band sich die Haare zurück. Im Flur schwebten ihre Finger kurz über Vális Halsband mit der Runenritzung. Normalerweise sorgte es dafür, dass die Leute ein gezähmtes Haustier mit Dackelblick statt eines echten Wolfs sahen. Außerdem achtete Váli darauf, sich wie ein Hund zu geben – bloß das Kläffen hatte er sich nicht angewöhnt. Aber dann entschied Loki sich für das Exemplar ohne Runen. Dazu schnappte sie sich die pro forma vorhandene Leine. »Wir gehen Jör abholen, ja?«
Váli wedelte zur Antwort mit dem Schwanz und trottete zur Tür. Das Halsband war nach so vielen Jahren zur Gewohnheit geworden, selbst für Loki, die es mühsam fand, sich an Gesetze zu halten.
Jör. Triff mich an der Anlegestelle Treptower Hafen. Loki zeigte ihm ein Bild der Spree und gab ein paar Hinweise dazu, wo die zugehörige Flussmündung lag.
Es dauert noch ein bisschen, hier ist es eng, antwortete Jör. Und bei den Nornen, wo kommen diese ganzen großen Schiffe her? Wer braucht die alle? Sind Freyr und Freyja übermütig geworden?
Auch Loki hatte sich die Frage gestellt, warum die Menschen sich so vermehrt hatten. Eine Antwort hatte sie nicht gefunden. Aber egal wie, sie schienen darauf erpicht, den Globus kahl zu fressen. Sieben Milliarden, Jör. Es ist viel Zeit vergangen.
Hm, meinte Jörmungand.
Erwartete er noch etwas anderes? Sie biss sich auf die Lippe. Eine halbherzige, floskelhafte Bitte um Entschuldigung würde kaum wiedergutmachen, wie widerstandslos Loki Odin über seine Kinder hatte verfügen lassen.
Loki und Váli drehten aus Langeweile drei Runden durch den dunklen Park, bevor Jör sich näherte. Niemand begegnete ihnen an diesem sehr frühen Samstagmorgen. Vielleicht, weil Váli ungetarnt als Wolf an Lokis Seite lief.
Zuletzt harrten sie an der Anlegestelle aus, bis bei beginnender Dämmerung Jörmungands stacheliger Drachenkopf aus dem Wasser tauchte.
Loki blieb fast das Herz stehen, als hätte sie den sichtbaren Beweis gebraucht, um an die Rückkehr ihres Sohnes zu glauben. Ihre Hände krallten sich in ihre Kapuzenjacke. Sie konnte sich nicht rühren. Wieso hatte Jör von allen Wesen nach ihr gerufen, nach ihr, die es am wenigsten verdient hatte?
Das Flusswasser hat sich verändert, bemerkte Jör scheinbar unbeeindruckt von Lokis Schweigen, hievte sich über die niedrige Kaimauer und schlängelte auf seinen kurzen Beinen an Land: Ein vier Meter langes, oberschenkeldickes Wesen mit fingerlangen Reißzähnen und sturmgrauen Schuppen. Schmeckt weniger nach Kacke und mehr nach Steinöl und Seife. Er schüttelte sich.
Váli sprang auf ihn zu und leckte ihm die Schnauze ab.
Hei, hei, kleiner Bruder. Endlich treffe ich dich. Das letzte Mal, als ich dich gespürt habe, warst du eine Kaulquappe in Vaters Bauch. Jörs gespaltene Zunge tanzte über Vális Nase. Dir geht’s gut, hm?
Vális Schwanz wedelte so sehr, dass Loki befürchtete, er würde sich die Hüften auskugeln. Aber anstatt das Kind zu beruhigen oder irgendetwas anderes zu tun oder auch nur zu sagen, schluckte Loki gegen den Kloß in ihrem Hals. Den Nornen sei Dank, dass Jör nicht eifersüchtelte.
Die beiden beschnüffelten sich noch eine Weile. Schließlich wandte Jör seinen Blick aus schlitzförmigen Pupillen Loki zu. Vater. Ich sollte eine Mutsühne von dir fordern.
Kein Papa mehr, was vorherzusehen gewesen war. »Sohn.« Lokis Erstarrung löste sich insoweit, dass sie trotz der Drohung die paar Schritte zu Jör machen konnte und vor ihm ins Gras auf die Knie sank.
Du erwartest doch nicht einfach so Vergebung?, meinte Jör. Nur, weil wir verwandt sind? Seine Nüstern stießen fast gegen Lokis Stirn, er roch nach Salzwasser und Tang. Du hast Mutter betrogen und uns deinem Blutsbruder ausgeliefert. Wenn du uns nicht verlassen hättest, wer weiß, ob Odin und seine ach so heldenhaften Asen uns dann überfallen hätten. Deinetwegen stecken meine Geschwister in Helheim und auf einer felsigen Insel fest. Selbst ich muss mich glücklich schätzen, dass ich überhaupt aus dem Wasser steigen kann.
Ich weiß. Loki schluckte. Obgleich sie nicht zur Grübelei neigte, hatte sie in all den Jahrhunderten genug Zeit gehabt, über dem »Was wäre wenn?« zu brüten. Auch wenn es zu nichts führte, mit dem Schicksal zu hadern, das die Nornen webten. Allerhöchstens sorgte es dafür, Fehler nicht zu wiederholen: Schlussendlich hatte Loki in einem Anfall von geistiger Umnachtung einmal zu oft Odins Ratschlüssen vertraut. Es tut mir leid. Alles tat ihr leid. Sie sich selbst am allermeisten. Es war keine Floskel.
Gut.
Loki senkte den Kopf, obwohl sie sich lieber zusammenkrümmen wollte. Sie hätte es ahnen sollen, denn sie hatte dieses Kind aufgezogen. Jör vergab ihr nicht automatisch. Zu einem Friedensschluss brauchte es Gaben oder Taten. In jedem anderen Zusammenhang wäre sie vor Stolz geplatzt, ein Kind zu haben, das für sich einstand.
Etwas Kühles streifte Lokis Nase. Bei passender Gelegenheit werde ich die Wiedergutmachung fordern, beschied Jör ihr.
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