Verteilungskämpfe

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Oder: Warum meine neusten Figuren unverbesserliche Hipster ohne eigene Autos sind anhand aktueller Beispiele.

Landtagswahlen in Bayern und Hessen sind rum. Am letzten Sonntagmorgen kam im Radio eine Meldung, dass die CSU jetzt genau analysieren will, warum die Leute zur AfD und den Grünen abgewandert sind. Außerdem noch eine Meldung, dass die SPD wieder ihre Arbeitspolitik in den Vordergrund rücken möchte, um damit Stimmen zurückzuholen.

Ich habe auch irgendwo gelesen, dass Arbeit eben nicht das Thema der Zeit sei, sondern Migration, und dass die diametral gegensätzlichen Positionen eben von AfD und Grünen bedient würden, und sie deshalb so viel Zulauf hätten.

Und ich denke … hmm. Jein.

Seien wir mal ehrlich: Sehr viele Leute reißen sich den Arsch auf, damit ihre Kinder es mal besser haben als sie.

Frage: Was ist eine bessere Zukunft?

Ist ein Skiurlaub in einem für Pisten zur Unkenntlichkeit zerstörten Gebirge plus zwei Flugreisen im Jahr „besser“? Ist ein eigenes Auto für den im Haus lebenden Sprössling „besser“? Wie viele Schränke voll Klamotten zählen als „besser“? Wieso füllen manche Ein-Personen-Haushalte monatlich mehr als einen halben gelben Sack mit Plastikmüll? Ist ein neues Smartphone alle zwei Jahre notwendig oder pervers? Wieso halten die Teile eigentlich auch nicht viel länger, ohne rumzumucken?

Wieso ist es billiger, eine neues Waschmaschine zu kaufen, als die alte zu reparieren?

Ab welchem Grad leben wir über die ökologisch sinnvollen Verhältnisse? Und zwar so, dass wir absehen können, dass die Enkel oder Urenkel es eben nicht besser haben werden, sondern mit Pech eine postapokalyptische Welt besiedeln?

Und zwar ganz ohne Zombies und Nuklearkatastrophe, sondern nur mit verändertem Klima? Also, so die richtige A-Karte …

Dazu müssen wir folgende Fakten rechnen: Eine Welt, in der es seit Jahren auf dem Sparkonto fast keine Zinsen mehr gibt. Eine Welt, in der Leute sagenhaft billige Kredite aufnehmen können, um Wohneigentum zu finanzieren, aber gleichzeitig um ihre Jobs bangen.

Ein mir bekannter Buchhaltungsexperte hat sich aus seiner eigenen Firma wegrationalisiert, indem er ein neues Computerprogramm implementiert hat.

So was blüht angeblich einem Haufen Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren. Es gibt Leute, die durch Big Data und künstliche Intelligenz ein Wegsterben von 30% oder mehr aller Arbeitsplätze prophezeihen.

Gleichzeitig sind Arbeitsplätze, die wirklich wichtig sind und nicht ersetzt werden können — in der Pflege, beispielsweise — schlecht angesehen und/oder mies bezahlt und/oder haben offen gesagt beschissene Bedingungen. Wie ein befreundeter Arzt in etwa meinte: „Ich arbeite derzeit um die 52 Stunden die Woche, obwohl ich mir nach Nachtdiensten den Tag freinehmen muss. Ich würde mit Kusshand in einem echten Schichtdienst arbeiten, wenn ich dann tatsächlich eine 40-Stunden-Woche hätte und meine Kinder öfter sehen könnte.“ (Pflegekräften geht’s ähnlich, nur mit weniger Geld, weniger Anerkennung und mehr Rückenbeschwerden.)

Die sogenannte Mittelschicht jedenfalls sieht ihre Privilegien und Felle davonschwimmen — der sinnfreie SUV für die Zone 30 dient dann wohl auch dazu, darzustellen, dass eine sich keine Sorgen machen muss. Während Leute wie ich schon lange damit abgeschlossen haben, dass sie nie den Wohlstand erreichen werden, den ihre Eltern zu den besten Zeiten genossen haben.

Respektive könnte ich es schon versuchen: Als selbstständige Apothekerin mit 60-Stunden-Woche und mit Pech ohne Urlaub. Dazu mangelt es mir aber an dem Willen, Leuten unnötigen Scheiß in Plastikverpackungen und Aluminium zu verkaufen.

Und ehrlich: Wozu? Zumal das entscheidende Wörtchen „versuchen“ heißt. Garantiert ist bei den derzeitigen Marktbedingungen nichts außer Stress. Und, mit sehr viel Pech, siehe oben, apokalyptische Zustände, bei denen ich an die illegal in die Schweiz geschaffte Kohle eh nicht mehr rankomme.

Bei der derzeitigen Aussicht beschließen denn manche mit sozioökomisch niedrigem Status, dass sie gleich fragwürdig wenig Grundsicherung beziehen können, statt für fragwürdig wenig Mindestlohn zu malochen und sich dann eine Wohnung in einer Metropolregion doch nicht leisten zu können. „Hartz Vier und der Tag gehört dir“, um eine Bekannte zu zitieren.

Der Kapitalismus frisst seine Kinder

Dauerwachstum funktioniert ab einem gewissen Grad eben nicht mehr.

Es ist also ein gewisses Unbehagen in der Kultur, behaupte ich mal. Weil halbwegs aufmerksame Personen ahnen, dass viele von uns gerade wie die Haute Volée auf der Titanic feiern, obwohl das Schiff den Eisberg schon gerammt hat.

Es gibt einen Grund, warum Dystopien en vogue sind unter den Jugendlichen. Und es gibt einen Grund, warum Thanos, der Titan, bei Marvel nicht mehr die Dame Tod umwirbt, sondern eine Umweltkatastrophe galaktischen Ausmaßes verhindern möchte.

Die AfD behauptet, dass dieses Unbehagen verschwinden würde, wenn wir alle rauswerfen, die nicht arisch genug aussehen, wenn jede Frau wieder mindestens drei Kinder hat und nicht mehr arbeiten geht, wenn Menschen gleichen Geschlechts nicht heiraten dürfen und wir die Unterstützung für Alleinerziehende genauso kappen wie sämtliche Ziele, den CO2-Ausstoß zu verringern.

Die Grünen behaupten in etwa das Gegenteil: Wir besteuern unnötigen Scheiß, schränken die wüstesten Auswüchse des Kapitalismus ein und haben hoffentlich eine Welt, in der Kinder jedweder Hautfarbe auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik einigermaßen gut leben können. Außerdem wissen sie, dass das Wetter sich einen Scheiß um Landesgrenzen kümmert.

Dieses Gegenteil erfordert aber den Griff an die eigene Nase und davor fünf Minuten Nachdenken, was erklärt, warum die Grünen bei Wahlen nicht so viel besser abschneiden, wie nachdenkende Personen sich das vielleicht wünschen würden.

Ich glaube nicht, dass ich die erste Person bin, die diese Beobachtungen gemacht hat und einen Zusammenhang sieht. Und das mit dem Grundeinkommen nicht so doof findet. Ich würde nämlich gern mehr soziales Ehrenamt, aber das hindert eine so am Geldverdienen.

Da ich keine Politikerin bin, schreibe ich halt über Hipster, die völlig unironisch kein Auto besitzen und Jutebeutel benutzen.

Jedenfalls: Irgendwer muss doch Arsch genug in der Hose haben, mit den Leuten mal Tacheles zu reden, statt ihnen vorzugaukeln, dass die Party ewig so weitergehen kann?

4 Gedanken zu „Verteilungskämpfe

  1. Ich bin nicht gerade eine Freundin des bedingungslosen Grundeinkommens, aber irgendsowas in der Art werden wir brauchen, wenn in dem Maß, wie es zu befürchten ist, Arbeitsplätze abgebaut werden. Arbeit anders/besser verteilen und eine finanzielle Sicherheit über dem Existenzminimum für jeden…

    • Allein schon der Artikel bei Wikipedia stellt ja einige Varianten vor. Die Frage ist: Wie kommen wir zu einer ausgeglichenen Wirtschaft wie bei Star Trek, ohne uns vorher die Köpfe einzurennen oder extremst Land unter zu haben? Dass alle genug zum Leben haben, aber niemand zu viel? Was zählt als zu viel, was als zu genug?

  2. Großen, herumhopsenden Punkt drunter.
    Was uns verkauft wird, ist immer noch: es wird besser werden, oder zumindest: gut bleiben. Ich würde einer Partei, die der Katastrophe ins Auge schaut und sich auf die Fahnen schreibt, die Katastrophe möglichst geschickt aufzufangen und dabei die Schwachen zu schützen, meine Stimme geben.
    Wird Zeit, echt.

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