Carmilla DeWinter
Albenbrut, Teil 1: Ein Bindender Eid
Queer Fantasy
Unter der großen Kiefer im Bürgergarten roch es bei gutem Wetter nach zu Hause.
Das war Unsinn, natürlich, denn Alea hatte keine einzige Erinnerung an das namenlose Dorf im Süden, in dem er geboren war. Meister Orso hatte ihn von seinen armen Eltern gekauft, als er gerade entwöhnt war.
Zumindest behauptete der Meister das.
Alea setzte sich verbotenerweise auf den von Nadeln bedeckten Boden und ließ die Sonne auf seine schwarze Kapuze brennen. Später würde der Meister die Trödelei bestrafen, aber die Ruhe hier war eine Ohrfeige wert.
Trippelnde Schritte kamen über den Kiesweg näher und hielten in geringer Entfernung an.
Alea öffnete die Augen. Ein kleiner Junge, dessen blonde Locken in alle Richtungen abstanden, starrte ihn an.
„Bist du krank?“, fragte der Junge.
„Nein“, sagte Alea.
„Was ist das dann für ein Mal in deinem Gesicht?“
„Das ist eine Tätowierung.“ Ein Zeichen, das Alea einmal nachts im Traum gesehen hatte; eine senkrecht verlaufende Zickzacklinie, vielleicht auch eine Schlange, wie das Tier des centerrischen Heilergottes.
„Was ist eine Tätt-oh-wie-rum?“
Wie erklärte man eine freiwillige Verunstaltung einem Kind? Alea runzelte die Stirn. Und sollte er das überhaupt, denn die Frage nach dem Warum würde nicht ausbleiben.
„Friedrich!“
Der Kleine zuckte zusammen. „Hier!“
Keuchend fegte eine Frau mit rotem Kopf und gerafften Röcken um eine Hecke. „Da bist du, du Lausbub. Du sollst nicht einfach davonlaufen, hörst du?“
Ob ihrer strengen Blicke fühlte Alea die Anspannung in seine Schultern zurückkehren, doch der Junge setzte nur einen Hundeblick auf und nickte.
„Gut. Wenn du noch mal ausreißt, muss ich es deinen Eltern sagen.“ Sie streckte ihre Hand aus.
Der Junge rannte zu ihr, nahm die Hand und grinste zu ihr hoch, offensichtlich ohne die geringste Furcht vor einer Backpfeife.
„Na also. Ich hoffe, er hat Euch nicht gestört“, wandte sie sich an Alea..
„Nicht im Geringsten“, log er.
Sie lächelte dünn, bestimmt war er ihr unheimlich, und zog den kleinen Jungen davon. Das Kind schien nicht eingeschüchtert und begann zu erzählen, von Tätt-oh-wie-rummen und allerlei mehr.
Alea starrte den beiden hinterher. So viel wie dieses Kind hatte er noch nie am Stück gesprochen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Das erste, was er überhaupt je gelernt hatte, war, den Mund zu halten.
Es hatte einige Zeit gebraucht, aber irgendwann im letzten Jahr hatte Alea begriffen, dass er nicht nur ein Rad ab, sondern einen vollständigen Achsbruch hatte.
Meister Orso hatte jedoch heute offenbar anderes zu tun, als sich um Aleas Pünktlichkeit zu kümmern; er war aus, also nahm Alea ein Schwert und übte im Hof, bis er Hunger bekam.
Erst kurz vor Sonnenuntergang fiel die Tür ins Schloss, und Meister Orso polterte die Treppe hinauf, als seien die Bretter Feinde, die es zu zerquetschen galt.
Schlechte Laune heute.
Ach was. Schlechtere Laune.
„Alea!“
Alea rannte die Treppen hoch ins Studierzimmer.
„Meister.“ Er verneigte sich tief.
„Wir haben Schwierigkeiten.“
„Meister?“
Meister Orso ging auf und ab, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt, sein grauer Mantel schleifte über die glatten Holzbohlen, und Alea widerstand der Versuchung, laut zu zählen. Es brauchte immer fünf Runden, bis der Meister sich beruhigt hatte.
„Unsere Verbindung ins Schloss hat ihr Gewissen wiederentdeckt.“ Der Meister hielt inne, um die kleine Eisentruhe auf seinem Schreibtisch anzustarren, in der sich angeblich die Beweise für seinen Thronanspruch befanden. „Du wirst Brünn daran erinnern, dass sie an eine Familie zu denken hat. Ich habe herumgehört, heute Abend wird sie in der Stadt ihre Schwester besuchen. Auf dem Rückweg wirst du sie abpassen und ihr ein paar Drohungen ins Ohr flüstern. Und keine Zaubereien. Sie darf nicht wissen, wie viele es von uns gibt.“
Eine echte Aufgabe, nicht die ewigen Botengänge und Spitzeleien. Etwas, das Aleas Kenntnissen würdig war. „Es wird mir eine Ehre sein, Meister.“
„Sieh besser zu, dass du mir Ehre machst. Keine Magie, auch wenn sie sich wehrt. Und sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Nichts, das sie meinem Bruder zutragen könnte, hörst du?“
Alea wollte mit den Augen rollen. Wie alt war er denn? „Ja, Meister.“
Der Meister scheuchte ihn mit einer Handbewegung hinaus; die Audienz war beendet.
Selbstverständlich hätte Alea Brünn auch irgendwo in der Stadt abfangen können – sie nahm immer den gleichen Weg – aber das war langweilig.
Die Strecke aus der Stadt zum Schloss stellte bei Dunkelheit jedoch eine gewisse Herausforderung dar, weil dann die Tore geschlossen waren. So musste Alea zunächst über die Stadtmauer klettern, dann den steilen Fußpfad zur Festung hinauf und dort wieder zwei Mauern überwinden, bis er den Rosengarten erreichte. Der Weg zum Dienstboteneingang führte dort hindurch, und Brünn nahm immer die Hintertür, obwohl sie gewiss keine Dienstbotin war.
Um diese Zeit war nicht mehr viel los im Schloss. Durch die hohen Fenster zur Terrasse hin drang noch Licht, doch nur ein Pärchen stand draußen und genoss einen der letzten lauen Sommerabende. Den Garten selbst erhellten nur einige Leuchtkugeln an den wichtigen Pfaden.
Alea gab sich trotzdem Mühe, leise zu sein; er würde ohnehin schon lange genug warten müssen. Im Rosengarten stellte er sich in einen der dunklen Seitengänge und richtete sich auf eine Stunde gepflegten Stumpfsinns ein.
Eine Ewigkeit verging, in der er von einem Fuß auf den anderen trat.
Jedes Mal, wenn Schritte sich näherten, war er bereit, zuzuschlagen, aber er musste einige kichernde Dienstmädchen, zwei betrunkene Küchenhilfen und noch ein paar mehr abwarten, bis Brünn auftauchte. Ihre Heilerinnen-Aura näherte sich gemächlich, und Alea hatte gute Lust, sie zu schieben.
Als sie endlich an seinem Versteck vorbeikam, trat er nach draußen, wand einen Arm von hinten um ihre Schultern und schlug ihr die andere Hand vor den Mund.
Sie keuchte, ein feuchtwarmer Lufthauch traf seine Haut.
„Heilerin Brünn… vielleicht wisst Ihr, weshalb ich hier bin?“, flüsterte er.
Sie schüttelte den Kopf, wand sich mit unerwarteter Kraft, und verhinderte so, dass Alea einfach Meister Orsos Botschaft ausrichten konnte.
Alea verstärkte seinen Griff auf sie. Dumm, dass er ihr den Mund zuhalten musste, statt einfach einen Kreis ziehen zu können.
Eine schattenhafte Bewegung vor seinem inneren Auge ließ ihn tief einatmen. Gleich würde es wehtun.
Brünn stampfte ihm mit ihrem Holzschuh auf die Zehen, und biss gleichzeitig in seine Hand.
Alea zischte, zerrte sie in die Schatten, und wirbelte sie herum. Versuchte den Schmerz nicht zu beachten, als der letzte Rest Haut sich von seiner Handfläche löste und warmes Blut floss. Mit dem Rücken schob er Brünn in die Hecke und nahm seine Hand nicht weg, obwohl die Heilerin würgende Geräusche machte, vielleicht, weil ihr das Blut nicht schmeckte.
„Für solche Spielchen werde ich nicht bezahlt“, sagte er.
Ihre Aura verschwand, und eine Vorahnung ereilte Alea mit ungewohnter Klarheit.
Zornige blaue Augen starrten ihn aus einem Gewirr von strähnigen blonden Haaren an; eine kurze Klinge zeichnete silberne Bögen in die Luft.
Dieser hier wird dich töten, sagte ihm die Vorahnung, wenn du jetzt nicht stillhältst.
Alea blinzelte.
Brünn rammte ihm ihr Knie in den Schritt.
Er taumelte zwei Schritte zurück und beugte sich vornüber. Rang um Luft, versuchte, den Schmerz davonzuschieben, bis er Zeit hatte, sich darum zu kümmern, denn Brünn wob mit den ausholenden Gesten einer Anfängerin ein Netz aus Zauberkraft.
Sie durften Alea nicht schnappen. Der Meister würde ihn umbringen.
Alea bewegte seine rechte Hand in Brünns Richtung. Nur ein bisschen Feuerwerk zur Ablenkung.
Der Gang flackerte in grellem Licht, Brünn keuchte wieder, Alea hörte sie auf den Weg fallen.
Offenbar hatte sie sich überanstrengt. Gut. Nachher konnte Alea sie aufwecken und Meister Orsos Botschaft weitergeben.
Irgendwann bekam er die Schmerzen in den Griff, richtete sich auf und humpelte zu ihr. Sie atmete, aber mitten durch ihren Bauch hatte der Blitz ein Loch gebrannt. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Alea schluckte bittere Galle und sah ihr Gesicht an, so blass in der Nacht, und das Blut um ihren Mund, als sei sie die Dunkle Herrin selbst.
Ihre Augen schienen bis in den hintersten Winkel seines Kopfes zu blicken, ihr Ausdruck wurde weicher, friedlicher, sie blinzelte, und Alea hatte das Gefühl, als wäre ihm soeben vergeben worden.
Dann holte ihn die Wirklichkeit ein, der Gestank und die Ermahnungen des Meisters.
Alea drehte sich um und hinkte davon, obwohl er ihren Blick in seinem Rücken fühlte, der versprach, dass es ihm besser ergehen würde, wenn er blieb.
Meister Orso musste gespürt haben, dass etwas schiefgegangen war, denn er erwartete Alea in der Eingangshalle.
Alea warf sich auf die Knie und lehnte sich dann nach vorne, bis seine Stirn den kühlen Boden berührte, in einer Geste größtmöglicher Unterwerfung. Immer noch diese nutzlose Hoffnung, den Meister besänftigen zu können.
„Was ist geschehen?“ Der Meister klang fast besorgt.
„Sie wusste sich zu wehren, Meister. Sie gab mir eine verwirrende Vision ein und wollte mich fesseln. Ich habe versucht, sie daran zu hindern und meine Kraft unterschätzt. Sie ist tot. Bitte vergebt mir, Meister.“
Der Meister blieb einen Moment lang vollkommen still, doch es wäre unklug gewesen, ihn anzusehen.
„Es war eine sehr einfache Aufgabe. Du hättest gar nicht lange genug brauchen dürfen, um dich so zurichten zu lassen. Außerdem habe ich nie Macht an ihr gespürt, die ausgereicht hätte, eine Vision zu fälschen.“
Alea hatte schon geahnt, dass der Meister die Lüge nicht glauben würde, aber immerhin fragte er nicht, was Alea gesehen hatte.
„Du wirst deine Strafe erhalten, und dann dafür sorgen, dass dein Fehler die geringstmöglichen Auswirkungen hat.“
„Ja, Meister.“
„Gut.“
Der Schlag traf Alea wie eine plötzliche Windböe und ließ ihn über den Boden gleiten, bis er an die Wand stieß. Das war ungewöhnlich sanft, und Alea rollte sich ein, in Erwartung des Restes, doch zunächst herrschte grausame Ruhe.
Schließlich kam der Meister näher, kniete neben Alea hin, und legte ihm eine Hand auf den Kopf. In Alea zerbrach etwas, obwohl er längst nur noch aus Scherben bestand, denn wie oft hatte er sich so eine Geste als Anerkennung gewünscht?
„Ich kenne mehr Wege, dir wehzutun, als du dir vorstellen kannst.“
Ja, das begriff Alea auch gerade. Orsos Daumen strich über Aleas Stirn, und er musste all seine Kraft aufwenden, um sich nicht in die Berührung zu lehnen.
„Sieh zu, dass ich mich das nächste Mal auf dich verlassen kann, sonst suche ich mir einen neuen Lehrling.“
Diese Drohung war neu, aber jetzt deswegen Angst zu haben, wäre Verschwendung. Lieber biss Alea die Zähne zusammen und wappnete sich.
Irgendwann war es vorbei.
Alea lag auf dem Boden, auf den kalten Schieferfliesen. Der Stein fühlte sich gut an auf seiner heißen Haut. Er blinzelte seine Hand an und wunderte sich, dass sie nicht verkohlt war; er hätte schwören können, dass alle Haut heruntergebrannt war, aber sie blutete nur ein wenig, da, wo Brünn ihn gebissen hatte.
Alea schloss die Augen. Nur ein bisschen Ruhe.
xxx
Im Schloss stand an jeder Ecke ein Wachposten, misstrauisch jeden beäugend, der vorbeiging – selbst Tankred und Ingfried blieben nicht ausgenommen, obwohl der Sonnenorden sonst mit Ehrfurcht behandelt wurde.
Tankred hatte ein flaues Gefühl im Magen, das nichts mit seinem heruntergeschlungenen Frühstück zu tun hatte. Was auch immer da geschehen war, ein Übel, über das der Bote nichts gewusst hatte, es würde zumindest die Welt auf den Kopf stellen.
Der Rosengarten war mit ein paar Schranken abgeriegelt, und im Hauptgang wimmelte es von Leuten. Wachen in blau und gold, den Farben des Königs; tuschelnde Dienstboten, zwei Heiler in grüner Tracht und drei Godinnen der Dunklen Herrin in schwarz.
Tankred und Ingfried hielten an der Schranke, und Ingfried winkte einen Wächter herbei. „Ritter Ingfried, und mein Mündel, der Knappe Tankred. Wir wurden vom Hauptmann hergebeten.“
Der Blick des Wächters huschte über ihre gelben Mäntel, suchte die goldene Borte an Ingfrieds und den silbernen Streifen für Knappen an Tankreds. „Ich gehe ihn holen, ehrwürdige Herren. Wartet hier, bitte.“
Der Wächter eilte davon, und kam schließlich mit dem Hauptmann zurück, einem stämmigen Mann mit einem vor Aufregung roten Gesicht. Als einziger Wächter trug der Hauptmann statt eines Helms eine lederne Kappe, an deren Krempe eine schmale blaue Feder wippte.
„Ehrwürdige Herren. Ich bin Dietmar von Dreiberg. Vielen Dank, dass Ihr so schnell erschienen seid.“
„Wie es unsere Pflicht ist“, sagte Ingfried milde. „Auch wenn Todesfälle nicht unser eigentliches Aufgabengebiet sind.“
Tankred unterdrückte ein Lächeln. Angestammtes Aufgabengebiet oder nicht, Ingfrieds Begeisterung für rätselhafte Verbrechen dämpfte das keineswegs.
Von Dreiberg hingegen verzog den Mund. „Wir haben Euch nicht gerufen, weil uns fähige Ermittler fehlen. Wenn Ihr mir folgen wollt?“ Er hob die Schranke für sie und führte sie den Hauptgang entlang. „Einer meiner Wächter hat die Leiche heute gefunden, kurz vor Sonnenaufgang, auf einem der zwei üblichen Rundgänge, die wir hier nachts machen. Er hat zunächst einen Heiler aus dem Schloss gerufen, aber der konnte nur noch den Tod feststellen.“
Der Haufen Schaulustiger wich beim Anblick von Ingfrieds und Tankreds gelben Mänteln zurück. Ein paar machten erleichterte Gesichter.
Am Boden lag eine Frau in grünen Gewändern, mit einem Handabdruck auf ihrem Gesicht, Blut wahrscheinlich, und mehr davon an ihrer linken Schulter. Getötet haben musste die Heilerin die etwa faustgroße Wunde in ihrem Bauch, schwarz versengt an den Rändern; wenn man nahe genug heranging, konnte man den Kiesweg durch das Loch hindurchsehen. Tankred schluckte und hoffte, dass sein Frühstück dort bleiben würde, wo es sich im Augenblick befand. Ganz gleich, wie viele Leichen er besichtigte, der Würgereiz wurde nicht besser.
Ingfried warf ihm einen warnenden Blick zu.
Tankred entfernte sich einen Schritt und hob das Kinn.
„Dies hier war die Heilerin der Königin. Brünn“, erklärte von Dreiberg leise. „Wie Ihr seht, ist sie mit Zauberei getötet worden. Offensichtlich gibt es einen Schwarzkünstler in der Stadt.“
Obwohl Tankred der Letzte war, der etwas dagegen hätte unternehmen können, fühlte er sich schuldig. Er biss sich auf die Unterlippe und sah zu Boden.
Ingfried zuckte nur mit der Nase, und schien vom Vorwurf der Hauptmanns nicht weiter beeindruckt. „Möge die Dunkle Herrin ihr gnädig sein.“
Tankred murmelte ihm die Worte nach.
Wie immer machte Ingfried eine Schau daraus, seine langen Haare zurückzubinden, die Handschuhe auszuziehen und die Ärmel hochzukrempeln. Dann ging er neben dem Leichnam in die Hocke, begutachtete zunächst das Loch. „Das hier ist von so starker Hitze versengt worden, dass es nicht geblutet hat. Ich gehe von einem Blitz aus.“
Tankred suchte die Hecken ringsum ab. „Ein paar Blätter da drüben sind schwarz.“
Ingfried drehte den Kopf, um es sich anzusehen. „Da muss man sehr genau hinschauen. Also war es gut gezielt. Jemand mit großer Macht hat sie sich zum Opfer erwählt.“
Einige ihrer nicht begabten Zuschauer machten Zeichen gegen böse Einflüsse.
„Nun denn.“ Ingfried griff der Toten ans Kinn, ruckelte, aber es ließ sich offenbar nicht bewegen. „Sie liegt hier schon eine Weile. Ihr Gesicht ist unversehrt, ich gehe davon aus, dass dieses Blut nicht ihr eigenes ist. Ein Heiler, bitte?“
Ein junger Mann trat vor, dessen Gesicht fast die gleiche Farbe hatte wie seine grüne Robe. Immerhin einer hier mochte Leichen also genauso wenig wie Tankred.
„Ich habe einen Verdacht“, sagte Ingfried. „Wenn Ihr ihr bitte den Mund öffnen wollt?“
Der Heiler knetete für einen Augenblick seine Hände, ging dann aber neben Ingfried in die Hocke und griff nach Brünns Kiefer. Tankred sah den Zauber im magischen Feld leuchten, und dann klappte auch schon der Mund auf.
Ingfried langte nach einem Fetzen, der zwischen rotbraun verfärbten Schneidezähnen hing, und zog.
Brr. Tankred schluckte. Der Heiler schüttelte sich.
„Das hier ist ein Stück Haut“, stellte Ingfried fest, nachdem er seinen Fund ausgiebig betrachtet hatte. „Vermutlich von einer Handfläche. Man kann die Linien sehen.“
„Sie hat den Angreifer gebissen?“, fragte der Hauptmann.
„Das glaube ich. Und seht Euch die Spuren an. Eine linke Hand. Hier der Daumen“, er zeigte auf den obersten der blutigen Fingerabdrücke. „Wahrscheinlich ist der Mörder Linkshänder.“
„Albenbrut“, flüsterte irgendwer.
Tankred rollte mit den Augen. Einer dieser Ewiggestrigen, die glaubten, dass die Linkshänder von den Alben auserwählt waren, Unruhe zu stiften.
„Albenbrut hin oder her.“ Ingfried stand auf und schüttelte den Hautfetzen von seiner Hand. „Wissen wir, was Brünn hier im Garten tat?“
„Sie hat sich nach Vorschrift bei der Wache am Inneren Tor ab- und zurückgemeldet“, sagte von Dreiberg. „Sie wollte ihre Schwester in der Stadt besuchen, die hat vor einer Woche ihr erstes Kind geboren.“
„Ihre Schwester“, wiederholte Ingfried dumpf.
Tankred verkniff sich eine ähnlich ungläubige Bemerkung – kein Begabter in Friedlant kannte seine Familie. Durfte sie nicht kennen.
Von Dreiberg trat von einem Fuß auf den anderen, als sei es seine Schuld, dass gegen die Gesetze verstoßen worden war.
„Bitte …“, sagte der Heiler, der noch immer neben der Leiche hockte. „Die Schwester ist ein gleicher Zwilling. Keiner wusste, dass sie hierher heiraten würde, und es war Zufall, dass sie Brünn traf, als die noch in der Stadt tätig war.“
Ingfried nickte. „Ein äußerst unglücklicher Zufall, will ich meinen. Wussten Eure Oberen davon?“
Der Heiler zuckte die Schultern. „Sie sagte, es sei genehmigt.“
„Diese Schwester werden wir als nächstes sprechen müssen. Aber zurück zur Tat. Brünn kam von der Stadt her.“ Ingfried nahm Tankred bei den Schultern und schob ihn in die Mitte des Hauptweges. „Gesetzt den Fall, ich wollte jemanden überraschen, dann ist dieser Gang hier ein gutes Versteck, weil die Hecken mehr als mannshoch wachsen und sehr dicht sind. Ein Schatten würde nicht auffallen.“ Er machte einen Schritt hinter Tankred. „Wenn ich mein Opfer nur töten wollte, könnte ich das von hier aus mit einer Keule, jeder anderen Waffe oder Zauberei bequem tun. Warum also das Blut in ihrem Gesicht?“
Tankred zuckte zusammen, als Ingfried ihn mit rechts umklammerte und seine linke Hand vor Tankreds Mund schweben ließ. Um das alte Blut an Ingfrieds Fingern nicht sehen zu müssen, drehte er den Kopf weg.
„Er – oder sie“, fuhr Ingfried mit seinem Vortrag fort, „hat sich Brünn von hinten gegriffen. Sie hat ihn gebissen, und daraus entspann sich ein Zweikampf. Als Heilerin wird sie zumindest gewusst haben, sich zu verteidigen.“
„Das ist alles schön und gut“, brummelte von Dreiberg. „Aber damit finden wir den Mörder auch nicht.“
Endlich ließ Ingfried Tankred los. „Wir wissen, dass der Mörder etwas wollte, außer Brünn zu töten. Falls letzteres überhaupt beabsichtigt war.“
„Wie auch immer. Ich hoffe, Ihr habt ein paar verdächtige Ausländer unter Beobachtung.“
Tatsächlich hatten die meisten umliegenden Länder zaubereibegabte Herrscher, so, wie es vor dem Großen Erbfolgekrieg auch in Friedlant gewesen war. Hier jedoch dienten die Zauberer dem König, nachdem sie das Land fast vernichtet hatten, und alle, die glaubten, dass Zauberer zum Herrschen bestimmt waren, wurden als Schwarzkünstler bezeichnet. Manchmal schaffte es einer über die Grenze, aber noch nie hatte man von einem gehört, der ins Schloss gelangt war.
In Tankreds Nacken krabbelte es wie von Käfern. Er hätte Angst haben sollen, aber die Käfer erinnerten ihn an eine andere Art Aufregung, so wie die, wenn er mit Ansgar gesprochen hatte, bis er sich seine Schwärmerei ausgeredet hatte.
„Um den Täter zu finden, müssen wir wissen, warum er Brünn überhaupt angegriffen hat“, riss Ingfried Tankred aus seinen Erinnerungen. „Wir brauchen eine Liste von allen, denen sie etwas anvertraut haben könnte.“