Nun hatte ich als Einstiegspost zu diesem Blog ein Lob des Eskapismus. Ich bin immer noch der Meinung, dass ein guter Fantasyroman ein viel besserer Weg ist, die Seele baumeln zu lassen, als Fernsehen. Ein guter phantastischer Text versetzt mich innerhalb von ein paar Sätzen in eine Tiefenentspannung, um die ich beim Autogenen Training ringe.
Aus irgendwelchen Gründen sind Fantasyautor*innen aber unseriös. Wir blenden die Realität aus, haben einfache Konzepte von Gut und Böse, verzichten auf Graustufen, schreiben darüber, dass irgendwer das Königreich rettet, anstatt die Institution Königreich in Frage zu stellen. Und so.
Es wäre aber völliger Unfug zu behaupten, dass spekulative Fiktion völlig apolitisch ist. Selbst, wenn keine eindeutige ikonische Aussage getroffen wird – Spidermans „Aus großer Macht folgt große Verantwortung“ lässt grüßen, dito Optimus Prime’s „Freedom is the right of every sentient being“ – kommt nicht mal di*er abgeratzteste Magier*in im obskursten Königreich hinter den sieben Bergen ohne Politik aus.
Wenn wir mal auf das Königreich zurückkommen: Noch in der 1848’er Revolution in Deutschland wurde jemandem das Kaisertum angetragen. Der Mensch lehnte ab, die Revolution scheiterte. Offenbar war das Prinzip König, beziehungsweise Kaiser so tief in den Köpfen verwurzelt, dass eine Ablehnung des Wunschkandidaten mit dazu führte, dass die Demokratie in Deutschland noch recht jung ist, und zwei Anläufe brauchte.
Wenn wir noch weiter zurückgehen, wäre das Prinzip Demokratie etwas gewesen, bei dem sich Befragte an die Stirn getippt hätten. Bezüglich Frauenwahlrecht haben die europäischen Befragten das ja teilweise bis in die Achtziger getan.
Also: Wenn da erfundene Leute in einem erfundenen Königreich leben, und es ihnen einigermaßen gut geht, und dieser König noch dazu eine religiöse Legitimation aufweist, dann wird das Prinzip Demokratie den Horizont der meisten erfundenen Figuren übersteigen. Deswegen wird das Königreich gerettet, da es eben Stabilität und einen gewissen Wohlstand verspricht.
Unabhängig davon spiegelt jeder Text die Person und deren Einstellungen wieder, von der er geschrieben wurde. Und die sind immer von der gegenwärtigen politischen Situation beeinflusst. Wer es unsicher hat, sehnt sich vielleicht nach der Stabilität, die ein Königreich verspricht, wer sich unfrei fühlt, schreibt sich vielleicht eine Welt zurecht, in der si*er so leben kann wie si*er möchte.
Treten da Frauen* Arsch, oder sind sie schmückendes Beiwerk? Wieso kommt das Böse ausgerechnet aus dem Osten, oder aus dem afrikanisch angehauchten Süden?
Wie viele People of Color leben da? Kommt da eine weiße Person und rettet die naiven Eingeborenen? (Auch arschtretende Frauen* können naive Eingeborene retten.)
Wie viel queeres Volk gibt es? Kommt es überhaupt vor? (Auch wunderbare Metaphern gegen Rassismus und pro verantwortungsvollen Umgang mit Macht können dabei auf ganzer Linie versagen. Darf ich im Übrigen Ron Weasley erwürgen, der seinen Muggel-Fahrprüfer konfundieren muss, um überhaupt an einen Führerschein zu gelangen? Der ultimative Beweis, dass Voldemort tot ist, aber seine Einstellungen fröhliche Urständ feiern.)
Fantasy wird fast immer von Nordamerikaner*innen und Europär*innen verursacht, gemeinsam mit ein paar Leuten aus anderen ehemaligen Kolonien Großbritanniens. Das merken aufmerksame Leser*innen. Das Publikum ist weniger homogen, und manchmal recht genervt vom Euro- bzw. Amerikanozentrismus des Genres. Beispielhaft (auf Englisch) der große Race Fail 2009, und die jüngsten Debatten um die Science Fiction and Fantasy Writers of America.
Also. Keine Person, die irgendwas schreibt, ist frei von politischen Einstellungen. Ob überzeugte Demokrat*in, „Sind eh alles Verbrecher“-Nichtwähler*in, Royalist*in oder Anarchist*in. Ob gläubig oder atheistisch, aus Deutschland oder den USA, konservativ oder queerfeministisch, Mittelschicht oder Prekariat. Unsere Denke wird sich in den Text schreiben, egal, wie wenig beabsichtigte Botschaften dieser Text hat. Und genauso wird sich in den Text schreiben, worüber wir nicht nachgedacht haben, oder noch nie nachdenken mussten.
Wie eine Gesellschaft funktioniert, wer wo wie Platz darin findet – ohne solche Überlegungen kommt der Weltenbau nicht aus. Wenn er es dennoch tut, wird der Text wahrscheinlich nichts taugen.
Insofern: Realität muss, wenn schon, dann willentlich ausgeblendet werden.
Ich hab mal die Probe gemacht, wie viele Testleser einen meiner HC aufgrund einiger Kapitel, in denen dezent auf seine „Andersartigkeit“ (= NOT white male) hingewiesen wurde, als Farbigen mit anderem kulturellen Hintergrund einstufen. Das Ergebnis war ernüchternd. Subtilität war verschwendet. Entweder nehme ich den Holzhammer, oder ich lebe damit, dass sich jeder Leser selbst ein Bild von den Charakteren macht, das oft erheblich von meinem abweicht.
Die eigenen Vorstellungen und Denkmuster beeinflussen nicht nur den Autor, auch den Leser. Ich kann mir als Autor nur Mühe geben, eine schlüssige Welt zu erfinden und das politiische und soziologische Machtgefüge plausibel zu machen – was der Leser hineininterpretiert, liegt nicht mehr in meiner Hand.
Deshalb finde ich es umso wichtiger, dass sich der Autor Mühe gibt, eine authentische Welt zu erschaffen, damit sich der Leser leichter in ihr zurecht- und auch herausfindet, dass nicht jede Fantasy-Welt auf einem mittelalterlichen Europa basiert.
Oh yeah. Ordentliches Worldbuilding ist alles. Die Leute sehen, was sie sehen wollen, also ist mit subtil gleich gar nix. Was ich im wahren Leben ebenfalls merke: heterosexual until proven otherwise.
(Ein Aside: Sofern ich mich an Noah Sow richtig erinnere: „Coloreds“ sind mittlerweile bevorzugt Schwarz, mit großen S.)
Ein Aside zum Aside: Ich kenn zwar diese Noah Sow nicht, aber ich kenne in Südafrika Menschen die sich als „Coloreds“ bezeichnen und darauf stolz sind. Man sollte immer mal über den „deutschen“ Tellerrand schauen.
PS: Und wegen diesen IMHO unwichtigen Spitzfindigkeiten muß ich nun statt „Negerbrot“ (http://de.wiktionary.org/wiki/Negerbrot) Schwarzbrot essen ;-)
http://www.derbraunemob.info/faq/ Daher die Sache mit dem Schwarz. Ich bin halt der Meinung, wenn ich auf Deutsch in Deutschland schreibe, sollte ich mich bei diversen Begrifflichkeiten den Leuten anpassen, die das ebenfalls tun.
Und ob’s nun Schoki ist oder Stulle: Mahlzeit.
Hm, wie nenne ich dann Nicht-Schwarze, die aber auch keine Weißen sind? Ethnische Besonderheit?
Die einzigen Coloreds, die ich persönlich kenne, sind Südafrikaner, und meine Bekannten bezeichnen sich selbst weiterhin, weil sie unter ihren Vorfahren viele Nationalitäten/Volksstämme haben und ihnen „schwarz“ zu eingrenzend ist. Zumindest ist das bei den jüngeren so, bei den älteren könnte auch jahrezehntelange Konditionierung eine Rolle spielen. So genau haben wir nicht darüber diskutiert, mussten uns schließlich durch viele Weine probieren :-)
Der Grundsatz von „heterosexual until proven otherwise“ scheint mir im echten Leben wie in Büchern gleich. Man geht automatisch davon aus. Wird wohl was mit dem Mehrheitsdenken zu tun haben.
Wobei ich einen Unterschied zwischen Männlein und Weiblein feststellte, zumindest in meinem Bekanntenkreis: Reaktion meiner männlichen Betaleser auf meine Feststellung, dass eine meiner Figuren homosexuell ist, war „oh nein, doch nicht der HC?“. Frauen hingegen meinten durch die Bank wertneutral: „Fein. Welcher?“
Was dann in weiterer Folge spannende Diskussionen mit meinen männlichen Freunden über Sexualität, Mannsein und Toleranz gab… ;-)
Ich hab Sirtakis schon an den Braunen Mob verwiesen.
Anyhow: Ja, der durchschnittsheterosexuelle Mann hat da wohl ein paar mehr Berührungsängste. Offenbar halten die Queersein für ansteckend? Oder Schwule für eine so fremde Spezies, dass Mitfühlen nicht mehr möglich ist?
Fantasy lese ich zu wenig, um etwas darüber sagen zu können, aber ich lese ab und zu Science Fiction und die stammt meistens von Autor_inn_en aus den USA. Da fällt mir schon auf, wie „amerikanisch“ die oft ist, der Präsident, das Weiße Haus etc. spielen immer eine wichtige Rolle.
Lustig ist auch in der Sowjetzeit entstandene im Original russische SF, die Storys spielen oft im Jahre Zweitausendnochwas und es gibt die Sowjetunion selbstverständlich noch. Tja…
P.S.: Warum kann ich die letzten auf diesem Blog geschriebenen Kommentare eigentlich nur sehen, wenn ich die Seite mit dem Smartphone anschaue?
Und das, was auf Russisch im Jahr Zweitausennochwas über den aktuellen Zeitraum geschrieben wird, klingt teilweise recht desillusioniert.
Nach den Einstellungen schau ich gleich mal.
Meine Art von Eskapismus sind ja eher Krimis, aber auch da ziehe ich die vor, die einen Hintergrund haben, also sich auf politische oder soziale Gegebenheiten beziehen und nicht einfach so in der Luft hängen.
Ich weiß nicht, ob die Millennium-Saga noch zu den Krimis zählt, aber die habe ich wegen ihrer Vielschichtigkeit zweimal gelesen. Und ich freue mich immer, wenn meine Mutter einen neuen Schorlau zu verleihen hat.
Worauf ich hinauswollte, war, dass nichts, was so ein Mensch schreibt, völlig ohne Folgen in den Gemütern der Lesenden bleibt. Und mensch sich daher überlegen sollte, was si*er so rausposaunt. Gilt für Krimis wie für spekulative Fiktion.