Fortwährdende Entsolidarisierungen

Manchmal hilft es nur, sich die Beleidigung zu eigen zu machen.

Anekdotische Beispielsammlung

Da ist das Elternteil, das dem offen queeren Nachwuchs stolz berichtet, es hätte bei der letzten Bundestagswahl statt CSU das Bündnis Sarah Wagenknecht gewählt. (Beide Truppen kamen in Sachen queer nicht besonders gut weg bei den Wahlprüfsteinen.)

Eine mir bekannte trans Frau zitiert eins ihrer Elternteile: „Da kommt ein langer, harter Kampf auf euch zu.“

Meine migrantisch lesbare Bankberaterin blickt nicht, dass ich gegebenenfalls lieber auf etwas Gewinn verzichte, als weiter in Fonds zu investieren, die Meta und Elon-Hitlergruß-Musk reicher machen.

(Ich investiere in Fonds, die Immobilien im Portfolio haben. Ist das als Person, die zur Miete wohnt, vertretbar?)

Es gibt eine kleine Truppe sehr lauter lesbischer Frauen, die Hass auf trans Personen zu ihrem Markenkern gemacht haben.

Nachdem Geflüchtete in Hamburg eine Bezahlkarte haben, sollen jetzt auch Personen mit Bürgergeld eine bekommen.

Diverse migrantische Personen in meinem Umfeld haben nichts Besseres zu tun, als auf Personen neidisch zu sein, die später nach Deutschland gekommen sind als sie selbst.

Und so weiter.

System dahinter?

Nach Solidarität zu rufen ist einfach. Solidarisch sein weniger. Das ist nicht neu, aber in Zeiten von Autoritarismus noch eine ganz andere Hausnummer als vor 2008.

Wir sehen derzeit, dass folgende Gruppen besonders angegangen werden: muslimische Geflüchtete, trans Personen, Personen ohne Arbeit.

Derartige Auseinzelungen haben selbstverständlich System.

Muslimische Personen, die vor 2001 zugezogen oder hier geboren sind (zumeist aus der Türkei, Iran, Nordarfrika bzw. deren Eltern oder Großeltern von dort stammen) werden eingeladen, Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak zum Teufel zu wünschen. Wenn ich die entsprechenden jungen Kolleginnen so angucke, funktioniert das hervorragend.

Die lesbischen Personen wie Alice Schwarzer, die gegen trans Personen auffahren, gibt es schon seit den 1970ern. Neu ist, dass die Politik gemerkt hat, dass sie sich dieser Personengruppe bedienen kann, um gegen das SBG und überhaupt die medizinische und psychosoziale Versorgung von trans Personen mobil zu machen. Ich weiß nicht, ob und wie die anti-trans Frauen merken, dass sie sich von Nazis instrumentalisieren lassen.

Mit der permanenten Unterstellung, dass Personen, die Bürgergeld bekommen, eigentlich arbeiten könnten, werden Personen aus dem Niedriglohnsektor zum Hass eingeladen – und dazu, sich mit ihrem miesen Mindestlohn zufriedenzugeben. (Debunking solcher Mythen durch sanktionsfrei e.V.)

Sich unter einer bereits marginalsierten Gruppe die Schwächsten rauszupicken, ist Teil des antidemokratischen Rollbacks. Tatsächlich scheint es Teil des menschlichen Systems zum Stressabau, nach unten zu treten (die Klimakatastrophe ist halt auch schlecht am Kragen zu packen). Autokratien erhöhen künstlich den Stress, auch bekannt als „flood the zone with shit„, was dann logischerweise Entsolidarisierungen zufolge hat.

Martin Niemöller hat das in markante Verse gepackt:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist …
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

(Nach Wikipedia ging das Gedicht durch mehrere Fassungen.)

Spätestens nach Merz‘ Aussagen sollte aber das Regenbogenfarbene Zirkuszeltkollektiv (auch bekannt als LGBTQIA+ Community) gemerkt haben, dass der Rollback gegen die TNQ-Fraktion nur der Anfang ist.

Genauso wurde ja schon beim Potsdamer Treffen 2023 gegen „integrationsunwillige“ muslimische Personen mit deutschem Pass geplant, insofern ist Hass gegen die später Zugezogenen zwar verständlich, aber am Ende genau das, was Rechten von uns wollen.

Lösungsversuche

Das Kollektiv Save Sciene beobachtet:

The relative powerlessness and stigma of targeted groups often leads to a lack of solidarity with victims during democratic backsliding, but this is a critical and preventable error. Privileged folks should stand up for the persecuted as authoritarianism rises, because it is a lot easier to stop persecution of minorities when it is still controversial than to defy it when repression has reached the mainstream and become accepted as conventional.

„Die relative Machtlosigkeit und das Stigma, das auf den attackierten Gruppen lastet, führt oft zu einem Mangel an Solidarität mit den Opfern während eines Demokratieabbaus, dies ist jedoch ein kritischer und vermeidbarer Fehler. Privilegierte Personen sollten für die Verfolgten eintreten, während der Autoritarimus an Boden gewinnt, denn es ist sehr viel einfacher, die Verfolgung von Minderheiten zu stoppen, während diese noch kontrovers diskutiert wird, als sich gegen die Repression zu stellen, sobald diese den Mainstream erreicht hat und als normal akzeptiert wurde.“
(Übersetzung durch die Autorin dieses Postings, Hervorhebung ebenfalls.)

Quelle: The Anti-Autocracy Handbook. A Scholar’s Guide to Navigating Democratic Backsliding. Open access unter https://zenodo.org/records/15696097

Was auch erklärt, warum Die Linke als Partei erhöhten Zulauf hat. Die sind einfach radikal solidarisch und machen den Job, den eigentlich die SPD zum Großteil erledigen sollte. Bezahlbare Mieten, höhere Steuern für Reiche, und: Sie sind nicht auf das Sündebock-Narrativ der bösen Geflüchteten reingefallen. Etc. pp.

… Jetzt ist die Frage: Kriegt die politische Linke es hin, ihre Grabenkämpfe (beispielsweise zu Waffenlieferungen an die Ukraine) als „agree to disagree“ zu behandeln, sodass wir die Rechten und religiösen Faschisten an der Machübernahme hindern können?


(Mit Entschuldigungen an Martin Dannecker.)

#Bücherhamstern, zum Zweiten

Neben einer Heft-Edition folgt nun die Edition Rechts der Mitte.

Noch nicht gekauft, da hoffentlich signiert zu erwerben, ist Eine Socke namens Rechts von Christian von Aster und Sabine Klotzsche. (Was soll ich sagen? Ja, schon wieder von Aster. Denn: Asti macht geilen Scheiß.)

Ein Interview in der Siegessäule machte mich auf Tobias Ginsburgs Die letzten Männer des Westens aufmerksam. Auch das werde ich wohl kaufen und dann allen geben, die es brauchen können. Wobei Männlichkeitskult, Heldentum und Faschisten bzw. Diktatoren, die nicht zugeben würden, dass sie Faschisten oder Diktatoren oder sogar beides in Personalunion sind, zumindest für meineeine bereits zusammenhängen — einer von denen hat zwei Grenzen weiter eine Invasion vom Zaun gebrochen, die seine Untertanen nicht „Krieg“ nennen dürfen. (Theoretisch wären es ja russische Staatsbürger*innen, aber Vlad the Bloody II. Putin hätte wahrscheinlich nichts dagegen, zum Zar ernannt zu werden. Ein wenig in die ähnliche Richtung argumentiert das Nollendorfblog: „Warum Europas Freiheit am Tampon-Behälter im Männerklo verteidigt wird“)

Apropos Bücher brauchen.

Der weiße Fleck

Bereits verliehen ist Der weiße Fleck von Mohamed Amjahid, nachdem sich eine Person meines Vertrauens ungläubig zum ZDF-Film über die Wannsee-Konferenz äußerte. Wie Menschen andere so entmenschlichen könnten. Ich hatte mich nicht gewundert, was einerseits einem gewissen Zynismus geschuldet sein dürfte, zum anderen der Tatsache, dass ich den von dieser Person regelmäßig ausgeliehenen FOCUS mehr deswegen lese, um zu wissen, für wie politisch mittig sich der Mainstream hält. (Antwort: Sehr. Aber ist er es auch?)

Ins selbe Horn tuten Anne Ottos Woher kommt der Hass? (sind wir nicht alle ein bisschen autoritär?) und zumindest auch dem Titel nach der leider nicht mehr bespielte Gjallarhorn-Weblog bzw. Odins Auge des Nornirs Aett.