Über Fiammetta kam die Frage eine Leserin, warum der Sonnenorden ablehnend auf Heilikas androgynes Auftreten reagiert, obwohl es wegen des Keuschheitsgelübdes doch besser wäre, Geschlechterunterschiede in Kleidung etc. so wenig wie möglich hervorzuheben, damit niemand in Versuchung kommt.
Das klingt nach einer Frage, die ich nicht logisch finde, weil ich mehr weiß als die Leser*innen, aber andere Leute interessiert das vielleicht schon, also werde ich meinen Weltenbau ein wenig zerlegen, und das Pferd von der anderen Seite als damals aufzäumen.
Also: Was wissen wir über den Sonnenorden? Es handelt sich um zwangsverpflichtete Magier*innen, die ihrem König gehorchen müssen und keinen Sex haben dürfen. Könnten ja Kinder bei rauskommen, und zauberbegabte Dynastien sind ein No-go in Friedlant, im Gegensatz zu den Nachbarländern.
Die Dynastiebildung folgt daher nicht von der größten Zauberbegabung auf die nächste, sondern, dank der im Durchschnitt größeren Körpermasse und mehr Muskeln, vom Vater auf den Sohn.
Anhand diverser Kommentare von Figuren können wir annehmen, dass Mädchen allgemein für schwächer, gefühlsbetonter und zumeist oberflächlicher als Jungs gehalten werden. (Kommt das irgendwem bekannt vor?) Frauen sind/werden zumeist auf Kindererziehung und Haushalt beschränkt und auch im Erbrecht benachteiligt.
Hiermit erklären sich im Übrigen auch die Anreden: „Knappe“ und „Ritter“ werden unisex verwendet, um es dem Volk einfacher zu machen, das Amt und nicht das vermeintlich schwache Geschlecht zu sehen. Damit handelt es sich um eine aufoktroyierte Respektbezeugung, die manchen Männern durchaus schwer über die Lippen kommt.
Es lässt sich außerdem erahnen, dass Mädchen im Sonnenorden etwas anders gekleidet sind als die Jungs – de facto tragen sie Waffenröcke, die bis über die Knie reichen, was als „anständiger“ wahrgenommen wird, aber das wird nur einmal im Subtext angedeutet, weil Alea sich dafür nicht interessiert. Nebenher ist so ein Waffenrock ein relativ formloses Kleidungsstück über einem ebenfalls formlosen Hemd, und kaschiert daher ganz prima die Figur.
Heilika wird außerdem anmerken, dass erwachsene Zauberer lange Haare haben dürfen, aber nirgends steht, dass die Zauberinnen lange Haare haben müssen. Allerdings nicht, weil viele Mädels mit kurzen Haaren rumlaufen, sondern, weil lange Haare an Frauen eine Selbstverständlichkeit sind, sodass kaum eine auf die Idee käme, sich die Haare abzuschneiden.
Grund: Der gesellschaftliche Status einer Frau wird an deren Haartracht festmacht.
Guntrun wird das im zweiten Band kommentieren. Zöpfe für Jungfrauen, bedecktes Haar für Ehefrauen, Haarknoten für Witwen. Offenes Haar für Huren und lose Weibsbilder. Mehr noch: Lose Weibsbilder, deren Status bekannt ist, könnten sich niemals mit Zöpfen oder einem Kopftuch an die Öffentlichkeit trauen, da sie damit die Ehre der anständigen Frauen beleidigen würden.
„Haare ab“ heißt Ehrverlust, daher haben sich kurze Haare bei Frauen als „hässlich“ im kollektiven Bewusstsein verankert. (Das war im Übrigen nicht meine Idee, das war hier in Europa auch schon mal so.) Damit können wir schließen, dass die meisten Frauen beim Sonnenorden Zöpfe tragen, weil sie Jungfrauen sind und ihre Integrität leiden würde, wenn sie das nicht anhand ihrer Haartracht „beweisen“.
Mit ihrem Aussehen setzt sich Heilika also über durchaus bestehende Unterschiede hinweg, die so sehr in den Köpfen eingegraben sind, dass kaum eine*r den Sprung über selbigen Graben schafft, und die zunächst mit „Versuchung“ wenig zu tun haben. Nur weil diese Unterschiede anders sind als hier, heißt das nicht, dass es den Leuten dort einfacher fällt, eine dritte Schublade für Gender aufzumachen.