Die Inseln der Seligen, oder: von Hetze und Filterblasen


Inhaltshinweis: Ich zitiere rechte Hetze.

"Ein Lesezeichen für die Regenbogen-Fraktion" mit Regenbogen auf pinkem Grund.
Linkes Propaganda-Material.

Ich habe dank Arbeit und Nebenberuf einen recht weit gestreuten Kollegen- und Bekanntenkreis, der meine Filterblase immer wieder anpikst.

Dennoch sind die unterschiedlichen Wahrnehmungen manchmal frappierend. So durfte ich der politischen Analyse eines sich bereits im Unruhestand befindlichen Herrn aus dörflichem Umfeld lauschen. Das Problem seien die Linken, denn von links werde gehetzt. Und, so hatte ich den Eindruck, meinte er, dass das auf einmal und total aus dem Nichts heraus begonnen hätte, kurz vor der Bundestagswahl.

Leider hatte ich an dem Tag einen Migräneanfall, sodass mir die Löffel fehlten, persönlich zu widersprechen. Das hole ich nun nach, in der Hoffnung, dass es anderen helfen möge, sich zu sortieren.

Seit etwa 2020 stolpere ich in unserer Innenstadt, und ironischerweise oft an einer Brücke, die nach Guernica benannt wurde, über Aufkleber, die folgende Inhalte haben: „FUCK LGBTQ“, „Fuck Grün“, oder gleich vier Durchstreichungen: Grünen-Logo, Regenbogen-Flagge, Antifa-Symbol und Davidstern. Persönlich fühlte ich mich da auf drei Ebenen angesprochen, durchgestrichen und damit bedroht, obwohl ich einfach nur zum Bus nach Hause wollte. Die vierte Ebene beträfe unter anderem meine ehemalige Klavierlehrerin.

Wahlweise stammt und stammte das Geklebe von Revolte Pforzheim, Der III. Weg, oder anonym.

Aber gehetzt wird von links?

Wie meine muslimische Kollegin einen AfD-Aktivisten mit „Islamists go home“ samt übler Karikatur auf dem Pulli freundlich beraten konnte, weiß ich auch nicht. Ich hätte ihm wohl den Pierre Vogel um die Ohren gehauen und frage mich, ob er reingekommen wäre, wenn eine Person im Hijab an der Theke gestanden hätte.

Aber gehetzt wird von links?

Letztes Jahr fand bei uns zum zweiten Mal ein kleiner CSD und zum zweiten Mal eine christliche Gegendemo statt, wo, hust, erbauliche und bemerkenswert uninformierte Flyer darüber verteilt wurden, dass alle Queers in der Hölle brennen werden.

Aber gehetzt wird von links?

Seit 2016 es Reaktion-Emojis auf Facebook gibt, hinterlassen Menschen unter fast jedem Posting von meinen queeren Verbündeten einen Freu-Smiley, wenn es um zerstörte Bücher oder Gewalt gegen unsere Community geht. Wahlweise mit oder ohne Hinweis, dass wir alle eh nur krank seien oder ins Lager gehören etc.

Aber gehetzt wird von links?

Die bekannt eher konservativ bis rechte Springer-Presse gibt Elon Musk die Chance, die AfD lobzuhudeln (mit Absicht kein Link) und haut jetzt auf alle ein, die irgendwas gegen Rechts machen oder zu den Brandmauer-Demos aufgerufen haben. Dazu zählen die hiesigen großen Kirchen. Herr Merz, CDU, stellt eine Kleine Anfrage, ob es denn rechtens sei, dass sich von einer Demokratie geförderte Organisationen um die Demokratie sorgen und derartige Demos unterstützen. (Siehe dazu z.B. den Volksverpetzer. Keine Klicks für Springer.)

Aber gehetzt wird von links?

In Anbetracht der Tatsachen finde ich, dass der große Teil von „links“ die letzten Jahre echt gesittet unterwegs war. Beispielsweise einmal im Jahr CSD statt jeden Montag Corona-Leugnungs- und Putin-Anbiederungs-Spaziergang.

Dies belegt auch die Statistik. Für 2022 hat zum Beispiel das Redaktionsnetzwerk Deutschland einen Artikel. „Links“ geht manchmal ohne Erlaubnis oder maskiert auf Demos und schlägt auch mal Scheiben und Autos kaputt, und manchmal Rechten ein blaues Auge. „Rechts“ verhetzt das Volk und zündet erfahrungsgemäß schon mal Häuser an, in denen sich noch Menschen befinden. (Quelle: RND)

Konsequenterweise konstatiert die Tagesschau für das erste Halbjahr 2024: „Rechtsextreme Straftaten erreichen Rekordhoch.“ (Quelle: Tagesschau.)

Irgendwie ist es aber möglich, in Deutschland zu leben, ohne sich mit rechter Hetze auseinandersetzen zu müssen. Dass das ein Privileg ist, möchten die derart Gesegneten sicher nicht hören.

So ein Hinweis auf Privilegien oder die Nutzung des Terminus „alter weißer Mann“, das wäre aber, so im Grunde genommen, auch linke Hetze, oder?

Linien im Sand

So. Anlassbezogen mehr Politik.

Nachgestellter Tatort eines Mordes: Körperumriss, der mit Klebeband auf einen Fußboden angedeutet wurde. Ein roter Fleck suggeriert Blut.
Tödliche Linien auf dem Boden. Hier war ein Alien das (fiktive) Opfer. Throwback zur Leipziger Buchmesse 2018.

Ich bin ja auch nicht so glücklich mit allem. Oder, um ein Politikteil von Zeit Online zu paraphrasieren: Wenn du einen Haufen Steuern zahlst, sollte wenigstens die Verwaltung funktionieren und beispielsweise genug Betreungs- und Lehrkräfte in halbwegs intakten Schulen vorhanden sein.

Ein paar Sachen sind da sicher das Wohlstands-Paradox: Je mehr verschiedene Pflegezuschüsse o. ä. es gibt, desto eher brauchst du eine Sozialarbeiterin im Gesundheitsamt, die den Leuten sagt, welches Formular sie wann ausfüllen sollen/dürfen. Je mehr Straßen du hast, desto mehr musst du investieren, um sie befahrbar zu halten. Insofern sollte jede neue Straße gut bedacht sein und öffentliche Gebäude könnte eins vielleicht so bauen, dass sie gut zu pflegen und sanieren sind? (Guckt das hiesige brutalistische Rathaus an. Hmm.)

Wo die andere Kohle hinfließt – hm. Meine Heimatstadt hat zum Beispiel 1,4 Millionen Euro für eine unausgegorene Kunstsache rausgeballert, die m. E. besser in einen neuen Aufzug in der kombinierten Musikschule/Stadtbibliothek geflossen wären und so was.

Die Bundesregierung legt übrigens regelmäßig Subventionsberichte vor. (Achtung, das Dokument von 2021-24 ist ein großes PDF.) Über die Höhe und den Grund einzelner Posten ließe sich sicherlich streiten, vor allem, wenn gefühlt wenig bei rumkommt. (Forschungsgelder für die Automobilbranche zum Beispiel: Abgasskandal bei VW. E-Autos kommen nicht so in die Pötte, wie sie es optimalerweise täten. Auch Herr Spahns Maskendeals lassen sich da aus 2021 finden.)

Jedenfalls. In manchen Teilen der Bevölkerung herrscht irgendwie das Gefühl vor dass „alle“ (sic!) oder auf jeden Fall zu viele Steuern im Ausland landen, oder auf jeden Fall, dass alle anderen mehr Vorteile haben als eins selbst, obwohl sie diese Vorteile nicht verdienen.

Da hat dann der rechte Populismus einen echt klasse Job abgeliefert. Der Job ist in dem Fall, Linien zu ziehen.

Was im Fall von Migration Linien sind wie zwischen „echten“ Deutschen, Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft, erwünschten und unerwünschten Zugewanderten ohne Staatsbürgerschaft. Drei Linien, deren Definition sich übrigens jederzeit verschieben lässt, sobald sie mal gezogen wurden. Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft kann ich einen Pass entziehen, auch wenn sich das eigentlich nicht gehört. Vor allem, weil „straffällig“ ein extrem dehnbarer Begriff ist.

Sobald das durch ist, wackelt auch die Grenze zwischen „echten“ und „unechten“ Deutschen. Sind Deutsche islamischen oder jüdischen Glaubens deutsch genug? Warum trägt die Ehefrau dieses Erwerbsunfähigen eigentlich Hijab? Ist die integriert und verdient das Paar dann, Kindergeld zu beziehen? Was ist mit kritischen Stimmen? Sind die aufrechte Deutsche genug? (Die DDR hat gern Kunstschaffende ausgebürgert.) Was ist mit Menschen, die behindert sind/werden? Mit Arbeitslosen, die gefühlt zu faul sind, um zu arbeiten? Mit trans Personen, die die Linie zwischen Männern und Frauen gefährden? Sind die es wert, in diesem Land leben zu dürfen? Und wenn ja, welche Rechte gestehen wir ihnen zu?

Genauso die Linie zwischen Erwerbslosen, die es würdig sind, unterstützt zu werden, und solchen, die es nicht sind: Sobald ich eine Linie gezogen habe, die suggeriert, dass eine Gruppe weniger wert ist, kann ich die Torpfosten versetzen. Bis halt alle Erwerbs- und Wohnungslosen zum Beispiel im Arbeitshaus landen. (Idee u. a. aus dem kolonialen England. Null von Zehn, do not recommend, siehe Charles Dickens.)

Insofern mag ich das Narrativ von „Arbeit muss sich wieder lohnen“ nicht so gern. Wenn die Kohle aus dem Vollzeitjob nicht zum Leben reicht, sollte ich mich vielleicht eher fragen, ob der Mindestlohn zu knapp bemessen ist oder die Mieten völlig überteuert sind, anstatt Erwerbslose zu bashen?

Aber auf angeblichen „Sozialschmarotzern“ rumzuhacken, ist viel einfacher und entmenschlicht sie noch.

Und sobald ich dieses Narrativ aufnehme, haben die Rechten gewonnen. Das wissen die Leute Rechts außen, aber die anderen merken es immer zu spät.

Das Fräulein ist ungnädig. (Wie so viele gerade.)

War der letzte Post über Gründe, nicht zu wählen, ein bisschen gemein? Üblicherweise versuche ich ja, sachlich zu bleiben und mich nicht von meinem Hang zum Sarkasmus völlig wegreißen zu lassen.

Sachlichkeit bringt mich gefühlt nicht so weit, wie ich gern wäre. Diese Frustration teile ich wahrscheinlich mit sehr vielen Menschen in diesem Land. Und mit Beschimpfungen sind wir dann bei der allgemeinen Debatten(un)kultur angekommen.

„Provokation, so wird […] deutlich, ist ein zentrales – wenn auch umstrittenes – Element populistischer Politik.“ (Wielowiejski 2024: 326)

Und eins lässt sich halt echt gern provozieren. (Case in Point: Petitionen gegen Musk sind öffentlichkeitswirksam, aber zahnlose Tiger. Kaufts halt keine Teslas mehr, legt den Xwitter-Account auf Privat, deinstalliert das Fratzenbuch und den Messenger auf eurem Handy, nutzt bevorzugt Signal.)

Aber zurück zum Rant. Vielleicht hätte ich einen weniger ungnädigen Text geschrieben, wenn es nicht kurz vor Migräne gewesen wäre.

Schmerzen haben strengt an und führt bei mir dazu, dass ich eigentlich niemanden sehen und hören möchte. In einem solchen Zustand bittet man mich besser nicht um Spenden oder wichtige Entscheidungen. Autofahren vermeide ich lieber.

In der Regel bekomme ich es hin zu kommunizieren, dass das mit dem Kommunizieren gerade nicht so gut ist.

Aber vor den Schmerzen kommt das Prodrom — zwei bis zwölf Stunden, bevor der Anfall richtig losgeht, habe ich oft eine Schniefnase und/oder Schokoladenhunger. Außerdem bin ich dann schon mal unkonzentrierter und grantig bin rücksichtslos und merke es nicht, bis der Unfug schon angestellt ist bzw. das Auto oder die Gefühle anderer Menschen eine neue Delle haben.

Thematisch gibt es eigentlich genug Literatur zum Thema, aber noch mal: Es gibt Kräfte in dieser Gesellschaft, die allgemeine Grantigkeit für eine gute Sache halten. Menschen, die Angst haben oder vor Neid oder echten und vermeintlichen Ungerechtigkeiten fast platzen, sind halt ein bisschen wie ich auf Migräne: für das Gemeinwohl nicht förderlich.



Quelle für das Zitat: Wielowiejski, Patrick. „Rechtspopulismus und Homosexualität.“ (2024). E-Book im Open Access.

Immer der gleiche Mist? Über das Nichtwählen.

Im letzten Jahr hat mein Vereinchen zwei Kampagnen unterstützt, die darauf abzielten, Nichtwählende für die Europa- und die Kommunalwahlen zu aktivieren.

Seit dem 8. Januar läuft eine Kampagne des CSD Deutschland, die „Wähl Liebe“ heißt und eben auch Nichtwählende aktivieren soll.

Am 15. Februar um 5 vor 12 sind in zahlreichen Städten Demos und Kundgebungen geplant – für Vielfalt und Menschenrechte. Personen von außerhalb der Buchstabensuppe sind herzlich willkommen.

Ich habe in meiner mittelnahen Umgebung mindestens zwei Personen, die lieber nicht wählen. Die Begründung lautet jeweils im übertragenen Sinne: „Die Parteien sind doch alle Scheiße, warum soll ich da noch wählen gehen?“

Scheiße ist ein Spektrum

Wir sollten uns hierbei zunächst ins Gedächtnis rufen, dass „Scheiße“ kein digitaler, sondern ein analoger Zustand ist: Also, es ist selten etwas nur Scheiße oder nur keine Scheiße.

Klar, Hundekacke auf dem Gehweg oder sogar im Sandkasten: 100 % beschissen.

Frische Kuhfladen auf dem nicht geteerten Weg: Gibt Schlimmeres.

Dung von pflanzenfressenden Tieren getrocknet und gepresst als Naturdünger für den Garten? Per definitonem Mist, geben Leute beim Aldi aber Geld dafür aus.

Wenn wir das mal aufs echte Leben und meine Lebensrealität als gebärfähige Person übertragen:

Absolutes Verbot von Schwangerschaftsabrüchen: 100 % beschissen.

Derzeitiger Zustand mit Fristregel: Nicht optimal, gibt aber offensichtlich Schlimmeres. Siehe oben bzw. USA oder Goethes Faust, der Tragödie Erster Teil.

Abschaffung von Paragraph 218 Strafgesetzbuch: 0 % beschissen.

Wir sehen also: Was den einen „alles der gleiche Scheiß“ ist, ist für andere durchaus überlebenswichtig. (Ja, Frauen können an Schwangerschaftskomplikationen sterben. Auch 2025 noch. Und sich einen Schwangerschaftsdiabetes für ein ungewolltes Kind einzufangen, find ich jetzt auch nicht so prickelnd.)

Demokatie ist kein Supermarkt

Wenn verschiedenes Zeugs von außen nach dem gleichen Kackhaufen-Emoji aussieht, lohnt sich vielleicht ein genauerer Blick. Was dem einen ein Kackhaufen, ist dem anderen die Drohung einer Gefängnisstrafe oder eben nicht.

Wenn es dir egal ist, ist es vielleicht deinem Freundeskreis oder deiner Verwandtschaft nicht egal? Dann erweist du manchen deiner lieben Menschen mit deiner Verweigerungshaltung vielleicht einen Bärendienst.

Aber so ein genauer Blick ist anstrengend, genauso, wie verschiedene Positionen zu hören und abzuwägen? Und am Ende passiert immer weniger, als du gehofft hast.

Ich weiß. Demokratie ist halt kein Supermarkt, wo du reinlaufen kannst, was raussuchen und dann hast du am Ende genau das Produkt, was du haben wolltest. Du musst erstens was reintragen: zumindest die Disziplin, dich ein bisschen zu informieren und dich nicht über jede Aufreger-Überschrift blindlings aufzuregen.

Zweitens musst du mit Kompromissen leben können – in dem Land wohnst du ja nicht allein.

Sonst ist am Ende die Demokratie weg und deine ganzen Möglichkeiten, jede Partei öffentlich Scheiße zu finden zu dürfen, mit dazu.

Oh ja, und dann gibt es da noch diese total irrwitzige Möglichkeit, in eine Partei einzutreten und an deren Programm mitzuarbeiten

(… aber du hast keine Zeit?

Hm-hmm.

Wie viel von deiner Zeit verbringst du eigentlich mit Doomscrolling?)


Edits: Am 16.1. einen Tippfehler ausgebessert. Die Autorin ist so eingebildet, derartige Texte ohne Rechtschreibkorrektur oder gar KI in den Editor zu tippen und dann manchmal sogar noch am gleichen Tag zu posten.

Aber … Nazis? Ein kritischer Blick auf ein Kompendium

Heidentum zum Zweiten. (Für Teil 1 hier klicken.)

Sobald du irgendwie erzählst, dass du „germanisches Heidentum“, Asatru oder wie auch immer praktizierst, landest du schnell in der rechten Ecke. Gleichermaßen wittern Rechte Sympathie für ihre Anliegen, wenn eins einen Thorshammer als Schmuckstück trägt.

Woher kommt das und was machen die ganzen Heidnischen, die sich nicht als rechts verstehen?

(Der Blogpost ist lang. Wie so häufig kann ich es mit den Rechtspopulisten und ihren Soundbytes nicht aufnehmen. Mit Bullshit über Geflüchtete Ärger, Hass und Neid zu provozieren, ist halt wesentlich einfacher, als fundiert zu argumentieren.)

Weiterlesen: Aber … Nazis? Ein kritischer Blick auf ein Kompendium
Ist bei Distanzierungen nach Rechts immer mit dabei: Loki (hier aus einem isländischen Manuskript, 18. Jahrhundert).

Germanenbild aufräumen – ein hehres Ziel

Um bezüglich neue Heiden und Rechtslastigkeit ein bisschen klüger zu werden – außerdem musste ich ja wissen, was Jasna in Lokis Fesseln so gelesen hatte – stöberte ich zwischen 2018 und 2020 bei riesenheim.net und beim Nornirs Aett, und zuletzt legte ich mir neben einer E-Version von Andreas Mangs Aufgeklärtes Heidentum noch Asatru – Die Rückkehr der Götter zu (derzeit nur antiquarisch erhältlich). Ursprünglich für die US-amerikanische heidnische Organisation „The Troth“ erstellt, wurde es für die deutsche Übersetzung von Mitgliedern des deutschen Eldaring e.V. überarbeitet und ergänzt.

Es bezieht laut Klappentext „klare Position gegenüber jenen, die das Bild der Germanen (…) auf völkische Muster zurückführen (…) wollen“.

Schon beim ersten Lesen des ersten Drittels – ein Schweinsgalopp durch die Religionsgeschichte Deutschlands, Großbritanniens und Skandinaviens von der Steinzeit bis zur „Wiedergeburt“ des Heidentums – roch einiges diesbezüglich eher nach Schwurbelei statt nach Aufräumen. Allerdings hätte ich meinen Finger nicht genau darauf legen können, was mich so störte.

Erst, nachdem mich ein Blogpost von Thursa zu einer beeindruckend umfangreichen Analyse von Stefanie von Schnurbein schickte, begriff ich, was da schieflief. Von Schnurbeins Arbeit zeigt auf, wie sich klassisches völkisches und nationalistisches Denken entwickelte, wie die Neuen Rechten es zum etwas gesitteter klingenden Ethnopluralismus machten, und dass weder Gesamtgesellschaft noch Asatru/Alte Sitte/Neuheidentum vor derartigen Denkweisen gefeit sind.

Von da aus kletterte ich weiter zum Rabenclan und dem Ariosophieprojekt, wo hauptsächlich Hans Schuhmacher die völkische Denke in der Neuzeit und besonders im Heidentum untersuchte.

Und wenn eins dann „Asatru“ von vorn liest, fallen einem ein paar Sachen auf.

Kapitelweise Zerlegung – was bleibt vom Ziel übrig?

Im ersten Kapitel geht es um die Steinzeit. „Am wichtigsten ist vielleich, dass die genetischen Wurzeln der meisten Europäer sich bis in die Steinzeit zurückverfolgen lassen.“ (S.27) Das Buch verbindet das mit der Ahnenverehrung, die im Asatru einen hohen Stellenwert hat.

Es hinterlässt aber ein „Geschmäckle“, wie wir Süddeutschen sagen. Die Affirmation, dass deine Vorfahren hier immer schon gelebt haben und dass das Land das angestammte Geburtsrecht sei (vulgo „Blut und Boden“), haben wir ja schon anderswo gehört. Dass das mit der Ahnenverehrung dann im hinteren Teil des Buchs eher kurz angerissen wird? Honi soit qui mal y pense.

Fünfzehn Buchseiten lang beschreibt „Asatru“ die „Indoeuropäer“ (S. 29 ff.). Wer waren die? Gute Frage.

Aufgrund von Ähnlichkeiten zahlreicher Sprachen scheint es wahrscheinlich, dass es eine Kultur gab, die deren gemeinsame Urform sprach. Diese ur-indoeuropäische Sprache verbreitete sich dann (wie, ist nicht mehr nachzuvollziehen) und spaltete sich in verschiedene Sprachfamilien auf, die aber wieder untereinander Einfluss nahmen. Die germanische Sprachfamilie ist wohl ein recht junger Zweig dieses Baums und keine dreitausend Jahre alt.

Nun ist es zwar ganz unterhaltsam, von verschiedenen Wortformen auf deren Urform zu spekulieren und von da aus auf die Entstehungskultur und gar auf die religiösen Vorstellungen und die Opferkultur und Riten. Wir haben dazu aber keine Funde. Es gibt die These, dass die Kurgan-Kultur der vorderasiatischen Steppe eine indoeuropäische Ursprache nutzte, gesichert kann das jedoch niemals sein, denn die Menschen damals hatten keine Schrift. Demnach erscheint es etwas müßig, so viel Text auf eine Spekulation zu verwenden. Das alles dient dazu zu beweisen, dass die „Wurzeln unseres Glaubens sehr weit und tief in die Vergangenheit“ reichen (S. 44).

Abgesehen davon, dass ich nicht wegen des Glaubens da bin, und dass Mythen selten aus der leeren Luft entstehen, sondern Geschichten über Gottheiten sind, die historischen Einflüssen unterliegen … wieder ein Geschmäckle. Außerdem: Wenn ich als neue Heidin nicht den Hintern in der Hose habe zuzugeben, dass ich mir da aus historischen Quellen was zusammenstückle, dann sollte ich mir das mit den nordischen Gottheiten noch mal überlegen. (Vergleiche: Heidnische Tugenden: Mut.)

Die real existente Bronzezeit mitsamt ihren großartigen Funden (wie die Himmelsscheibe von Nebra) hat dann nur fünf Seiten Platz. Und auch die erste Epoche, wo es wenigstens Fremdberichte gibt, die tatsächlich von „Germani“ sprechen, nämlich die Eisenzeit samt der Römer, die von den Sueben bis zu den Goten mit allerlei germanischsprachigen Stämmen zu kämpfen hatten, erhält gerade mal elf Seiten. Also weniger als die sprachlichen Spekulationen.

Klar, Tacitus war tendenziös und wollte die dekadenten Römer*innen maßregeln. Aber so ein paar erwiesene Dinge – Sakralkönigtum, mythische Stammesvorfahren, wobei die Verwandtschaft wohl sozial statt genetisch gedacht wurde, Thingversammlungen, Frauen als in der Zukunftsdeutung Befähigtere – wären im Detail schon interessanter gewesen als spekulative Frühlingsrituale von vor 8000 Jahren. Auch interessanter als die immer wieder erwähnten Männerbünde, deren Existenz laut Stefanie von Schnurbein keinesfalls so sicher ist wie behauptet – und die in der deutschen Geschichtsschreibung seit 1900 immer wieder dazu herangezogen wurden, um männliche Herrschaftseliten zu legitimieren.

Sprache, Kultur und die Völkerwanderungszeit

Auch aus der Völkerwanderungs- und Vendelzeit hätten wir mehr Fund- und Schriftzeugnisse als zu „den Indoeuropäern“, aber auch die bekommt weniger Platz eingeräumt. Und hier finden wir gleich auf der ersten Seite recht entlarvende Zitate.

„Innerhalb dieses Zeitraums siedelten sich germanische Völker in ganz Europa und sogar Nordafrika an und übernahmen (…) große Gebiete des römischen Reiches. Bei diesem Prozess verloren sie allerdings so manches an eigenem kulturellen Erbe, was dazu führt, dass die Nachfahren der Franken und Burgunder heute französisch (…) sprechen. Nur die Angelsachsen und die Stämme, die in Germanien und Skandinavien blieben, konnten ihr kulturelles Erbe bewahren.“ (S. 65)

Abgesehen davon, dass die Stämme sich damals wohl kaum als „Volk“ begriffen, enthält „verloren/bewahren“ eine Wertung, die ich in diesem Zusammenhang kritisch finde. Wir können hier davon ausgehen, dass der Grund für den Wandel und Austausch keinem gezielten Imperialismus entsprang, der eine eroberte Kultur mit allen Mitteln zu assimilieren trachtete. Tatsächlich nahmen die Zuwanderer ja die Sprachfamilie der Alteingesessenen an – offenbar erschien den Menschen das damals praktisch und keineswegs als Verlust?

Gleichzeitig wird hier Sprache mit Kultur gleichgesetzt, was ebenfalls kritisch ist. Nicht alle Menschen mit der gleichen Sprache haben die gleiche Kultur, innerhalb einer Kultur können verschiedene Sprachen unterschiedlicher Sprachfamilien miteinander friedlich leben.

Jedenfalls ist hiermit der völkische Mehrklang komplett: Landschaft – Genetik – Sprache – Kultur – Religion. Alles „natürlich“ entstanden, weshalb Menschen mit einer gewissen Genetik in einer gewissen Landschaft eine gewisse Kultur, Sprache und Religion am besten steht.

Kein Wunder muss der Autor die Züge der Angeln und Sachsen ins römisch-keltische Britannien und deren „Auffindung“ von Gottheiten wie Thonar und Wodan in der dortigen Landschaft als Beispiel hernehmen, das heutigen Heidnischen in den USA und Australien als Beispiel dienen kann.

Dass die beiden Länder Englisch als Amtssprache haben, hat damit wohl nicht unwesentlich zu tun. Auf diese Weise können sich weiße Menschen auf anderen Kontinenten getrost als Nachfahren der indoeuropäischen Germanen verstehen und sich daher auf die ihnen „von Natur aus“ zustehende Religion „ihrer Vorfahren“ etwas einbilden.

Auch die Wikinger, aus deren mythologischen Erzählungen das meiste Material stammen dürfte, das wir heute in Form der Edden und der Sagas kennen, werden kürzer abgehandelt als die Indoeuropäer. Hier reißt der Autor allerdings wenigstens an, wie sehr die Annahme des Christentums durch Herrschende oft machtpolitischem Kalkül diente.

Und die Neuzeit?

Eine „Wiedergeburt“ zeichnet das entsprechend benamste Kapitel dann seit dem 14. Jahrhundert nach. Sicher dürfen wir uns heute freuen, mit welcher Emsigkeit seitdem alte Schriften gesammelt, Märchen aufgezeichnet und Volksbräuche dokumentiert wurden.

Allerdings entsprang dieser Eifer oft politischen Motiven – oder wurde aus politischen Motiven gefördert. Zunächst diente die Besinnung auf das Eigene/die Nation dazu, sich nach der Reformation vom Einfluss Roms und der katholischen Kirche freizumachen. Auch eine Rolle dürfte gespielt haben, dass man eine eigene glorreiche Vergangenheit suchte im Vergleich zu jenen Ländern, die sich für ihre Geistesgröße auf die römische und griechische Antike berufen konnten. Und die das Christentum römisch-germanischer Prägung ja zunächst und wahrscheinlich vorsätzlich seinem Pöbel vorenthalten hatte, indem es die Schriftkunde dem Klerus und der Oberschicht vorbehielt. Im Nachhinein für die geneigten postmodernen Heid*innen ein saublöder Schachzug, damals aber cleveres Machtkalkül.

Als Nächstes reißt das Buch die Romantik an – dabei das unterschlagend, was diese „Betonung der individuellen Identität und der spirituellen Entwicklung des Einzelnen, die der Leitfunktion von Seele und Gefühl vor der des Intellekts, Begeisterung für die unverfälschte Natur“ (S. 88) mit ausgelöst hatte. Nämlich ein Widerstreben gegen die naturwissenschaftliche Denkweise. Zur naturwissenschaftlichen Empirie passten weder Götter, Alben noch Seelen. Sodass die Welt fortan ein großes Uhrwerk wurde, und menschliche Körper waren mechanische Apparate, in deren Kopf der menschliche Geist saß und sie steuerte.

Neben den individuellen Sehnsüchten enthielt die Romantik den Glauben „an eine verklärte Vergangenheit, die angeblich von ritterlichen Werten und einer ‚Volksseele‘ als natürlicher Quelle höchsten künstlerischen Ausdrucks geprägt gewesen sei“ (ebd.).

Nebenbei war Napoleon auf Eroberungsfeldzug aus, und die „nationale Unabhängigkeit“ (lies: die Interessen des alteingesessenen Adels) musste gegen den fremden Usurpator (mit seinen Gesetzesreformen, die er den eroberten Gebieten angedeihen ließ) verteidigt werden, egal wie en vogue bis dato das Französische in der Oberschicht gewesen war.

Dazu mussten eine Nation und das dazugehörige „Volk“ für die „Volksseele“ aber erst einmal erfunden werden. Und damit waren die Germanen als Ur-Deutsche mal wieder in. Zudem suchten vor allem die Geisteswissenschaften wie die Linguistik, diese Idee der Volksseele zu beweisen und stellten sich (sicher oft unbewusst) in den Dienst der politischen Ziels eines geeinten Deutschlands. (Statt der zahlreichen Teilstaaten, die es damals gab.)

Ohne diese Erfindung des „deutschen Volks“ könnte es die „Völkischen“ aber gar nicht geben. (Vgl. u. a. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter.)

Wie sich diese Konstruktion von Völkern (im Gegensatz zu Staaten) und der „Volksseele“ nicht nur im wilhelminischen Deutschland zu Nationalismus auswuchs und wie die europäische Naturwissenschaft sich in einer Begeisterung für Darwins Evolutionstheorie zu Rassentheorien als Kolonial-Apologetik verstieg und den seit Jahrhunderten bestehenden Antijudaismus fröhlich als Antisemitismus mit integrierte, steht nicht im Buch. Wir bekommen dann vor allem die esoterischen Nazi-Inspirationsgeber in Form der Ariosophen und deren allzu reale Auswüchse serviert. (Witzigerweise hielt Hitler selbst jegliche Rekonstruktion des Heidentums offenbar für Spinnerei.)

Gegen Rassismus, oder auch nicht …

Danach fabuliert das Buch anhand eines einzigen konkreten (und eher zweifelhaften) Beispiels von „Unterdrückung“ (S. 102).

Völkische und andere politsch rechtslastige Menschen halten sich übrigens auch gern mal für unterdrückt. So etwas gehört zur Selbstinszenierung, denn Unterdrückte halten eher auf Gedeih und Verderb zusammen und können sich dazu noch für besonders mutig halten, wenn sie „das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen“ für sich reklamieren und jeglicher sachlicher Kritik mit Geschrei von „Zensur!“ begegnen.

Eher wertungsfrei berichtet dann die „Entstehung von Asatru“ von diversen Gruppen, die entstanden – wie viele davon ein „ethnisches“/„folkish“ Asatru vertreten, muss zwischen den Zeilen oder am besten auf der entsprechenden Homepage der besagten Truppen nachgelesen werden.

Wie sich das anhört, auch wenn „ethnisch“ nirgendwo steht: „Das traditionelle germanische Heidentum ist die indigene‭ (‬eingeborene‭) ‬Naturreligion der germanischen Völker Nord-‭ ‬und Mitteleuropas,‭ ‬die sich aus den religiösen Erfahrungen hier heimischer Menschen in Einklang mit der Natur ihres Landes organisch entwickelt hat.‭ ‬Als Naturreligion beruht es auf der Heiligkeit der Natur,‭ ‬als indigene Religion auf der Verwandtschaft zwischen der heimischen Natur,‭ ‬den Gottheiten,‭ ‬die in ihr sind,‭ ‬und den Menschen,‭ ‬die ihr angehören.‭ ‬Da die Natur und somit auch die Götter in ihr vielfältig und überall anders sind,‭ ‬lehnen wir Ansprüche auf universale Gültigkeit ab und vertreten das gleiche Recht aller Menschen auf ihre eigene Religion.“ (Einstmals auf den Einstieggseiten des VfGH zu finden, mittlerweile in ein PDF verbannt.)

Ah ja. Und wer entscheidet noch mal, was die „eigene“ Religion ist? Nicht die Leute, die sie ausüben wollen, sondern wo die Leute herkommen, also Gene und Landschaft, die als das Gleiche gedacht werden. Aber offen rassistisch oder völkisch ist das nun nicht mehr, auch wenn „Volk“ drin vorkommt und die germanischen Stämme keine Völker waren. Somit ist es ethnopluralistisch. Alle Sandkästen sind gleich gut, aber jedes Kind möchte bitte in seinem eigenen Sandkasten bleiben. Austausch von Sand oder Kindern ist gleichermaßen abzulehnen.

Was es nicht unbedingt besser als offen geäußerter Rassismus macht. Immerhin habe ich dann als Kind das Recht, andere Kinder aus meinem Sandkasten rauszuwerfen, wenn sie nicht seit Generationen in diesem Sandkasten verwurzelt sind. Diese Denke ist nicht besonders originell, wenn aus den Massenmedien der Ruf nach einer „deutschen Leitkultur“ herbeihallt, Pegida geschichtsvergessen das „christlich-jüdische Abendland“ bemüht und eine Kollegin es irgendwie seltsam findet, dass sie trotz ihrer Eltern (mit türkischen Pässen) deutsche Staatsangehörige ist, weil sie eben hier geboren wurde. (Fragt sich, ob sie das auch denken würde, wenn ihr „die Deutschen“ nicht ständig das Gefühl geben würden, eine „Ausländerin“ zu sein. Eine Denke, die dem römischen Reich wie auch den germanischen Stämmen wohl völlig abgegangen wäre.)

„Die Sippentreue unsererseits gilt nicht nur den Göttern,‭ ‬sondern allen Wesen,‭ ‬die durch gemeinsame Herkunft aus unserem Land mit uns verwandt sind.‭ ‬Nach unserer Überzeugung dürfen wir unser Land und seine Pflanzen und Tiere ebenso wenig ausbeuten und sinnlos schädigen wie seine Menschen.‭“ (Quelle: https://web.archive.org/web/20211203135019/https://www.vfgh.de/heidentum/grundlagen/)

Und was ist mit anderen Ländern und deren Pflanzen, Tieren und Menschen? Also doch nicht so gleichwertig wie behauptet.

Wenn Alte und Neue Rechte bei solchen Verlautbarungen Morgenluft wittern, muss sich eins nicht drüber wundern.

Aber sind derlei Einstellungen extrem genug, um der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“ zuwiderzulaufen? Darunter fallen „Rechts- und Linksextremismus, homophobe und rassistische Einstellungen, Sexismus, der Aufruf zur Gewalt sowie die okkulten Weltanschauungen der Theosophie bzw. der Ariosophie“. So was will der Eldaring e. V. (und damit die Erstellenden der Übersetzung des hier zerlegten Buchs) nämlich nicht vertreten, obwohl er sich ansonsten „politisch neutral“ verhält. (Quelle: https://eldaring.de/verein/selbstverstaendnis/)

Kann sich eine Religion politisch neutral verhalten?

„Die germanische Religion war Sache der politischen Gemeinschaft und stand mit dem rechtlichen, staatlichen und sozialen Leben in engstem Zusammenhang …“, so „Asatru“, das Buch (S. 129).

Also entgegen der Behauptung auf der Webseite: Religion regelt das Zusammenleben einer Gruppe. Religion kann sich nie völlig politisch neutral verhalten – sonst wäre eine Partei wie die CDU gar nicht möglich, die Kirchen würden niemals zu sozialen und politischen Fragen Meinungen raushauen und ich hätte niemals eine evangelikale Abtreibungsgegnerin aus der Apotheke rausekeln müssen.

Und über diesem Statement der politischen Eingebundenheit von Religion verliert sich „Asatru“ dann weiterhin in dem Versuch, mit der Berufung auf die Religionswissenschaftler Sundermeier und Assmann, Religionen aufzuteilen. Es gebe primäre und sekundäre Religionen. „Ziel der primären Religion ist die Beheimatung des Menschen in der Welt und seine Integration in die Ordnung des Irdischen. Die sekundäre Religion hingegen zählt auf Weltüberwindung, auf Erlösung des Menschen von den Zwängen dieser Welt …“ Und dass die sekundäre Religion, die „immer eine Buchreligion“ sei, irgendwie schlechter ist, versteht sich im Subtext natürlich von selbst.(S. 130).

Religiös wenig aufgeschlossene Menschen (das Gros der Bevölkerung) verstehen unter „Buchreligion“ das Judentum, das Christentum und den Islam, eventuell noch den Buddhismus. (Wer hätte an den Sikhismus gedacht? Bitte melden.)

Das Judentum ist aber nach der Definition von Sundermeier/Assmann eine primäre Religion. So etwas sollte eins dem geneigten Publikum erklären, sonst hört die mittlerweile zynische Lesende den Antisemitismus trapsen.

Desgleichen wirkt die nachfolgende Gegenüberstellung von Erlösungs- und Versöhnungsreligion nach Sundermeier etwas lächerlich, zumindest für Menschen, die das Vaterunser mal auswendig lernen mussten. („Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, nicht?)

Im Schlussabsatz wird beklagt, dass in Deutschland die „universalistischen“ Gruppen und die „folkish“ Gruppen aus politischen Gründen nicht zusammenarbeiten könnten. Die „Darstellung in den Medien“ würde von dieser Abgrenzung abhängen und „das Überleben“ für deutsche Asatru-Gesellschaften wäre sonst nicht möglich (S. 131). Dieses Lamento ist dann so konsequent wie apolitisch und trotz der 130 Seiten langen Geschichtsstunde ein wenig geschichtsvergessen.

Und wie anderswo schon bewiesen wurde: Die Rechten brauchen keine Mehrheiten, die brauchen nur Leute, die sie tolerieren und sie ihre Ideologie der Ungleichwertigkeit ungestört verbreiten lassen.

Also … wenn das alles so ideologisch besetzt ist, wieso ein langer Exkurs statt einfacher Urteile?

Ich will keineswegs behaupten, alle Personen, die an der Erstellung des Textes von „Asatru“ mitgewirkt haben, seien rassistisch, völkisch oder verträten den Ethnopluralismus. Oder dass sie sich sonst wie für etwas Besseres hielten, weil sie zu Asatru gefunden hätten.

Sonst hätte ich ja einfach „Rassismus!“ krähen können und es dabei belassen. Passiert weiß Frigg oft genug.

Wie schon Stefanie von Schnurbein meinte: Derlei Gedankengut ist ob seiner Allgegenwart perfider und invasiver als die besten Absichten.

Und Hans Schuhmacher konstatiert: „Nicht etwa Naturreligiöse der 80er Jahre schufen eine nationalistisch-rassistische, verklärte Vergangenheit. Sie fanden sie bereits vor und hielten sie für die historische Wahrheit – da man ihnen ja auch von nahezu allen Seiten die Richtigkeit dieser Annahme bestätigte. (…) Die Öffentlichkeit, die dann die Alarmglocken läutete, aber zumeist beispielsweise am deutschen Staatsbürgerrecht nicht das Geringste auszusetzen fand, prügelte vehement auf ihren eigenen Schatten ein.“ (Quelle: http://www.rabenclan.de/index.php?n=Magazin.HansSchuhmacherNationalismus03)

Es gilt demnach, aufzupassen und die eigenen Meinungen konsequent zu hinterfragen.

Should auld acquaintance be forgot … oder: Abschied vom Amt

Ein Amt ohne Stempel? Undenkbar.

Es war 2014, als ich über eine ziemlich geile Idee stolperte, die Hagen Ulrich, Autor von Vampirromanen, hatte. Wenn in Deutschland alles verwaltet wird, muss es auch Vorschriften für magische Wesen geben. Und ein Amt, das sich um alles kümmert. Also, das Bundesamt für magische Wesen: Platz für gehobenen Nonsens und Satire.

Nicht nur ich fand die Idee anfangs sehr klasse, es entstanden bis 2016 zwei kleine Anthologien, ich schrieb einige Blogbeiträge für die zugehörige Internetseite. Ich half einmal beim Verkaufsstand bei der RingCon und beim CSD Köln aus.

Finanziell gelohnt hat sich das nie, aber ich hatte, als so langsam die Begeisterung in der restlichen Fantasy-Schreib-Szene nachließ und ein Verlag gegründet wurde, ein paar Aufträge für Lektorate.

Aber gleichzeitig fing es an zu knirschen.

Strike 1: Sprachverbote?

Da lieferte sich der Amtsleiter auf Twitter ein Gefecht mit mir lieben Kolleginnen ums Thema rassistische Ausdrücke. Nun bin ich grundsätzlich dagegen, irgendwelche Wörter zu verbieten und weiß durchaus, was Rollenprosa ist. Aber im Alltag tut es echt nicht weh, „Schokokuss“ oder „Schaumkuss“ zu sagen statt rassistische Ausdrücke zu reproduzieren, wenn es nicht absolut nötig ist. Ich kann mich noch lebhaft dran erinnern, dass ich mich als etwa Zwölfjährige über die geänderte Aufschrift auf einer Süßkram-Box wunderte, woraufhin mir meine Mutter erklärte, dass das M-Wort halt in dem Fall eine Beleidigung sei und dass man das nicht mehr sagen sollte. Und damit war die Sache bzw. der Schokokuss für mich gegessen. Damit will ich nicht behaupten, ich hätte keinen Rassismus verinnerlicht, aber zumindest in dem Fall hat’s gewirkt und ich vermisse im Alltag auch nichts.

Ich muss keinesfalls, um mich gegen ein vermeintliches Sprachverbot zu wehren, diverse rassistische Ausdrücke in meine Twitter-Timeline werfen, wie es der Amtsleiter tat. Da sehe ich dann keine Satire mehr, das ist, bestenfalls, Trotz.

Strike 2: Die TERF-Diskussion

Mit einer unreflektierten Verteidigung von J. K. Rowling ging es weiter. Wieder erst mal bei Twitter. Eine geschätzte Kollegin teilte irgendwas über Rowlings Trans-Feindlichkeit, die Amtsleitung widersprach, dass Rowling keineswegs transfeindlich sein, ohne sich um die Fakten zu kümmern. Im Grunde habe ich die Zerlegung ihrer angeblich nicht transfeindlichen Streitschrift nur geschrieben, damit alle (inklusive Amtsleitung) blicken, dass das Traktat transfeindlich ist. Ob das gelungen ist, bleibt dahingestellt. Ich wage es zu bezweifeln.

Strike 3: Sind Content Notes einfach nur Mimimi?

Ich muss gestehen, ich mag Content Notes. Ich lese viel Fanfiction, und sehr gern bei AO3, da dort ausführlich getaggt wird. Ob es um Beziehungskisten oder verschiedene Arten von Gewalt oder anderen Probleme geht: Es gibt halt einfach Tage, an denen ich keinen Bock auf Thema Wasauchimmer habe, und dann kann ich den Text wann anders lesen oder ihn fürderhin gepflegt ignorieren. Ich selbst weiche beispielsweise sehr viel heterosexuellem und heteronormativem Content aus, weil ich das im echten Leben schon genug habe.

Ich kann also verstehen, dass das Menschen auch in Büchern schätzen. Zumal es bei mir „kein Bock auf“ ist und andere vielleicht, sagen wir, tatsächlich schwierige Alkoholiker*innen in der Familie haben und dann nicht unbedingt aus dem toten Winkel mit Alkoholismus konfrontiert werden wollen. Das Leben ist ohnehin schon mies genug. Es ist meiner Meinung nach okay, wenn sich Menschen ihre Freizeitbeschäftigung kuratieren möchten und ebenfalls für sie anstrengenden Themen lieber ausweichen.

Sich dann darüber lustig zu machen, dass manche Leute Content Notes schreiben oder ebensolche ihren Romanen voranstellen und die „Generation Mimimi“ das auch noch gut findet oder gar darum bittet — das finde ich schlechten Stil. Oder vielleicht ist es Neid, weil es das früher nicht gab? (Manchmal hätte ich das als Teenie wohl brauchen können.)

Jedenfalls finde ich diese Art von Spott weniger Satire, als sich Applaus von Rechts einzusammeln, indem auf einer Praxis rumgehackt wird, die a) nicht verpflichtend ist und b) in modern-linker Manier die Zugänglichkeit zu Texten verbessern möchte.

Ähnlich läuft das für mich mit dem Gendern. Tu es oder lass es bleiben, aber wenn du Applaus dafür möchtest, dass du es Scheiße findest: Dann kriegst du kein Geld von mir, wenn ich es vermeiden kann.

Fazit

Die rechte Rhetorik hat da wohl verfangen, wenn sich die Amtsleitung von irgendeiner Sprachpolizei verfolgt fühlt? Alternativ könnte ich als Begründung für das völlig unaltersgemäße Trotzverhalten Neid auf die (jungen) Kolleginnen vermuten, bei dem ein nicht unerhebliches Maß Misogynie mitspielen dürfte.

Jedenfalls gehöre ich nicht mehr zu so einem Amt.


Bildquelle: User:KMJ, CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/, via Wikimedia Commons

Jahresabschluss / Gelesen 2023

Dafür, dass ich hier wenig gepostet habe, bin ich ganz gut zu Veranstaltungen rumgekommen in 2023. Während es kein Schreibjahr in dem Sinne war, schaue ich doch recht zufrieden auf die politischen Aktivitäten zurück und all die Menschen, die ich dadurch kennenlernen durfte.

Und ich weiß, dass meine links/liberal/grün/woken Bubbles mit einem zuversichtlichen und einem besorgten Auge nach vorn blicken.

Privat war auch in bisschen Nerverei.

Und ich selbst hatte mit insgesamt fünf Infekten, davon einmal Corona und einmal wahrscheinlich Grippe, zu kämpfen, was die Promo für meine einzige Neuerscheinung, nämlich das zweite Beweisstück, sehr beeinträchtigte. Zumal das mitherausgebende Tenna zu dem Punkt ebenfalls aus anderen Gründen indisponiert war. (Da weiter gute Besserung den restlichen Zipperlein, mein Liebes.)

Meine Frau Mama allerdings hatte es geschafft, sich dieses Jahr einen Posteriorinfarkt (einen Schlaganfall) zuzulegen, was ihre Sehkraft zunächst massiv beeinträchtigte. Sie durfte einige Monate nicht Auto fahren, weshalb ich gelegentlich Taxi spielte. Ich weiß jetzt, dass ich den zu spät erkannten Risikofaktor geerbt habe. So die Gesundheitsversorgung in den nächsten Jahrzehnten noch einigermaßen funktiniert, werde ich wohl relativ früh relativ hohe Dosen Cholesterinsenker brauchen.

Nu ja. Aber immerhin sind sie, bis auf eine zu beerdigende Katze (nicht meine), alle noch da.

Damit wünsche ich allen einen guten Jahresanfang 2024.

Und nun zur klassischen Leseliste, die dieses Jahr eher kurz ausfiel, da ich noch mehr Fanfiction gesuchtet habe als üblich. Was mit dem besorgten Auge von oben zu tun haben dürfte. (Die besten Transformers-Fanfics sind immerhin diejenigen, in denen ein Krieg auf überzeugende Art endet oder abgewendet wird.)

Christian von Aster: Bromley. Ein metafiktionaler, äußerst amüsanter Agentenroman. Der Autor eines Thrillers wird entführt, und es liegt an der Hauptfigur Bromley, seinen Schöpfer zu retten. Ein aberwitziges Abenteuer zwischen den Zeilen und unter Fußnotenluken entspinnt sich.

Leigh Bardugo: Das Gold der Krähen. Dies ist die Fortsetzung von Das Lied der Krähen. Wo der erste Band vordergründig ein klassischer Heist war, haben wir es hier eher mit einem Fantasy-A-Team zu tun. Diesmal gilt es weniger, etwas zu stehlen, als die komplette Zunft der Grisha in Ketterdam und anderswo zu retten.

Duke Meyer: Küss die Hand, Gnä‘ Sau. Duke Meyer wirft einen ganz persönlichen Blick auf nordische und altgermanische Gottheiten. Seitdem schaue ich Sigyn anders an und Lokis Fesseln wäre wahrscheinlich ein bisschen anders verlaufen, wenn ich das Buch vorher gelesen hätte (aber anno 2019 war es noch nicht erhältlich).

Heike Schrapper: Der Prinz und sein Monster. Ein Märchen vom Loswerden. Liebevoll illustriertes Märchen von einem Prinzen, der plötzlich ein Monster auf seinem Rücken sitzen hat. Ob es sich hier um eine Parabel über Depressionen oder vielleicht chronische Schmerzerkrankungen oder etwas anderes handelt, mögen die geneigten Lesenden selbst entscheiden.

Holger Much und Florentine Joop: Und wenn wir nicht gestorben sind … (Bruderherz). Ein Mix aus Briefwechsel und gemeinsam verfasstem Märchen mit Illustrationen. Das Märchen ist das, was ich vermute, das Märchen ursprünglich mal waren: Gruselgeschichten für Erwachsene, in diesem Fall mit philosophischem Extra. Die umrahmenden Briefe geben dem Ganzen eine persönliche Note, mal nachdenklich, mal amüsant.

MaroHeft #8, Anna Lühmann und Anna Geselle: Know Your Enemies. Neue alte Rechte Denker. Die Autorin knöpft sich Vordenker der rechten Szene vor, während sich die Illustratorin mit unserem rechten Erbe aus Kolonial- und Nazizeit beschäftigt. Empfehlenswerter Einstieg ins Thema.

Hannah McCann: Queer Theory Now. Der Text liefert (auf Englisch) einen Schweinsgalopp durch die Queer Theory, von ihren Wurzeln in der feministischen, antirassistischen und Schwulen- und Lesben-Bewegungen zu dem, was heute so veröffentlicht wird. Dabei zeigt sie angenehm entspannt Zusammenhänge auf und spart auch die Fallstricke mancher Denkweisen nicht aus.

Germaine Paulus: Und die Moral. Ein Thriller. Der erste Band, Pfuhl, um den Ermittler Gerd Wegmann ist ein absichtlicher Schundroman. Und die Moral ist ein bisschen ernsthafter in seinem Blick auf die sexuellen Befindlichkeiten und dazugehörigen moralischen Urteile der Bundesdeutschen, und dazu noch sauspannend.

Benno Gammerl: Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaisserreich bis heute. Auch hier ein Schweinsgalopp, diesmal durch die deutsche Geschichte. Benno Gammerl zeigt langfristige Entwicklungen, Erfolge und Niederlagen der queeren Bewegung in Deutschland auf, hauptsächlich allerdings die der Schwulen- und Lesben-Community, da diese immer stärker im Fokus der Rechtssprechung standen. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine vollständige Betrachtung, aber es gibt auf jeden Fall was dazuzulernen – vor allem in Sachen: „Wie alt ist diese Rhetorik eigentlich?“

Dorothe Reimann: Mannaz – Die Sippe. Roman. Richtige „Fantasy“ ist die Geschichte noch nicht, ich würde es eher in den magischen Realismus oder gegebenenfalls nach Mystery einsortieren. — Eine alleinstehende Kunstschmiedin und ihre lernbehinderte Schwester müssen aus ihrer alten Bude raus und gründen mit ein paar anderen Gleichgesinnten eine Kommune. Dass es dabei ab und zu menschlich hakt, ist klar. Aber die frisch gegründete „Mannaz-Sippe“ scheint auch einen übersinnlichen Gegenspieler zu haben … Wie immer spannend, auch wenn Dorothe Reimanns reduzierter Stil für manche Fantasy-Fans wahrscheinlich etwas gewöhnungsbedürftig ist.

Christian von Aster: Harem der verschleierten Geschichten. Orientalisches oder orientalistisches Märchen? Eigentlich will ich ja alles vom Herrn von Aster gut finden. Zu meinem Zwiespalt gibt es einen eigenen Blogeintrag.

Tommy Krappweis: Mara und der Feuerbringer (alle drei Bände). All-age-Fantasy. Teenie Mara Lorbeer begegnet einem sprechenden Zweig: Sie sei eine Seherin und nur sie könne verhindern, dass Loki sich von seinen Fesseln losreißt und den Weltenbrand, Ragnarök, auslöst. Ein sehr amüsantes, schön recherchiertes und saumäßig spannendes Abenteuer.

Lisa Jaspers, Naomi Ryland und Silvie Horch (Hrsg.): Unlearn Patriarchy. Eine Aufsatzsammlung. Machthierarchien begegnen uns offensichtlich in Sprache, in Rassismen, in Behindertenfeindlichkeit, im Bildungssystem, beim Geld. Aber auch beim Sex und in der Familie, dem angeblich zuverlässigen Rückzugsort. Und wie kann ich Macht verlernen? Die einzelnen Texte werfen je einen Blick auf ein Thema, sind sich dabei nicht immer einig, geben immer Denkanstöße und brauchen auf jeden Fall einen Re-Read, sobald die erste Person damit durch ist, der ich den Band ausgeliehen habe.

Fabian Sommavilla: 55 kuriose Grenzen und 5 bescheuerte Nachbarn. Der Autor wirft einen Blick auf Grenzen und deren Historizität. Grenzen und ihre Verläufe sind das Produkt von Kriegen und Verträgen und keinesfalls eben „schon immer so gewesen“. Ein Sachbuch für Menschen, die Geographie mit der zugehörigen Historie mögen.

Konjunktive/Jahresrückblick

Eigentlich sollte ich … Ich müsste noch …

So was habe ich im letzten halben Jahr öfter gedacht, aber das Phlegma war dann doch größer als das, was zu dem Konjunktiv gehört. Ich habe diesen Blog samt der Blogroll vernachlässigt, den Blog vom Verein auch, Facebook ebenfalls. (Ich mag gar nicht zählen, wie viele Aktionstage mir durch die Lappen gingen und wie viel Wertvolles von Kolleg*innen ich nicht geteilt habe.)

Nebenbei habe ich wahrscheinlich 130’000 Wörter Corona-Verarbeit-Seifenoper in den Sand gesetzt, weil ich seit 2020 einfach drauflos geschrieben habe und der Plot, na ja, den muss ich nun mit dem Sieb in eben jenem Sand finden. Sobald ich die Energie dazu habe. Vielleicht wird noch eine kurzweilige Polyamorie-Geschichte draus, vielleicht auch nicht.

Zeug, das ich hingekriegt habe, neben einer nicht unbeträchtlichen Menge Überstunden, weil Personalmangel ist wie halt überall und ich daher auch Krankheitsvertretungen für Menschen schob, die nicht meine Berufsgruppe waren, sodass ich mindestens einen 60%- statt einen 40%-Brotberuf zu den Lektoraten und Korrektoraten hatte:

  • den Plot in Lokis Fesseln mit der Lektorin zusammen freigeschürft, Buch ist mit etwas Verzögerung erschienen, aber immerhin;
  • ein Essay geschrieben, aus dem ein saugeiles Heft geworden ist;
  • in dem Zusammenhang einen Haufen Interviews gegeben (Radiobeiträge Deutschlandfunk Nova und Radio Dreyeckland, Youtube-Kanal von Sex- und Paartherapeutin Claudia Elizabeth Huber: Rezension sowie ein Interview, Magdalena Heinzl vom Podcast Sexologisch: Folge 85) und für Lesungen nach Frankfurt, München und Ludwigslust gegurkt;
  • einen Haufen Studien gewälzt, um dann nächstes Jahr hinterher hoffentlich als Autorin 2 von 4 einen Scoping Review zum Thema „Wie viele Buchstaben-Minoritäten-Menschen gibt es eigentlich in Deutschland?“ fertig zu haben;
  • anderen schreiberischen ehrenamtlichen Kram gewuppt;
  • mich von einer total lieben Mail zurück ins Transfandom saugen lassen und 31’000 Wörter Fanfic geschrieben, die hoffentlich bis Ende des Jahres noch ein paar mehr werden und zur Alpha-Leserin gehen können (wer das PDF von Abyssals The World Translated Thus will, bitte melden/unrepentant StarOP shipper here);
  • festgestellt, dass eins meiner Transformer-Fanfics bei TV Tropes empfohlen wird, trotz des nicht so einfallsreichen Titels;
  • mich über ein rares Belegexemplar von „Wie gleich ist gleich? LGBTQIAA – eine Bestandsaufnahme“ gefreut;
  • und drüber gefreut, dass die Kurzgeschichte „Der Schatz des Königs“ auch endlich gedruckt ist, dank dem Machandel-Verlag;
  • eine Ausschreibung für die zweite Beweisstück-A-Anthologie gestartet;
  • immerhin eine Idee für eine andere Anthologie gehabt, die 2024 vom lokalen Schreibvereinchen rausgegeben wird;
  • die Albenbrut für eine digitale Gesamtausgabe überarbeitet, wobei das aber wohl etwas schlechter geklappt hat als geplant, wenn ich die Rezi anschaue, bzw. ich wohl noch mal das fertige Dokument hätte lesen sollen, den „Änderungen übernehmen“ kann manchmal böse enden;
  • Orga-Kram für das andere Vereinchen erledigt, inklusive 2 x CSD-Präsenz und die übliche jährliche Konferenz.
Albenbrut-Neuauflage. Ohne Kerle drauf ist besser.

Insgesamt hätte es also schlimmer laufen können. Aus der Nähe sieht es immer nach weniger aus. Kinners, ich bin platt. Und jetzt geh ich raus für ein Mini-Julfeuer und eine Runde Met.

Da ich hier wahrscheinlich vor Weihnachten nicht mehr so oft reinschaue: Schöne Feiertage allen, egal was ihr feiert.

Keine Sexgeschichten

Aus gegebenem Anlass — dem irritierten Blick einer Person im Skype-Call nämlich — muss ich mal was klarstellen: In der Regel enttäusche ich journalistisch Tätige, weil ich zwar gern über das asexuelle Spektrum aufkläre und Fragen über gesellschaftliche Zusammenhänge stelle, meine eigene Sexualhistorie aber nicht detailliert wiedergebe.

Dekobild: Mensch mit Bart, Grimasse und Lupe

Ich finde die Frage, ob da schon mal aus einvernehmlichen Gründen ein Penis drin war, nicht besonders relevant für das, was ich bin und tue. Es interessiert mich auch nicht, ob andere weibliche und weiblich gelesene Menschen in heterosexistischen Zusammenhängen als jungfräulich gelten. Das hat ja keinen Einfluss darauf, ob die Person kluge Dinge zu sagen hat, zum Ladendiebstahl neigt, mir sympathisch ist oder sonstige menschlich relevante Eigenschaften besitzt. (Ich winke mal allen, denen solche Fragen auch schon gestellt wurden.)

Mir ist klar, dass in manchen Zusammenhängen über Sex geredet werden muss — aber in Medienberichten über asexuelle Menschen verharrt dieses Reden oft in einer Pose, wo eine Person sich der Neugier der Mehrheitsgesellschaft preisgibt. Im Namen der Aufklärung und Information, natürlich.

Irgendwie war mir mit diesem Argument der Information nie ganz wohl. So neugierig ich bin (grauenvoll neugierig), manche Fragen stelle ich doch nicht. Wer mir im Vertrauen etwas erzählen will, gern. Wahrscheinlich erzähle ich etwas zurück. Aber das ist ein Unterschied zu einer Information, die für den öffentlichen Konsum bereitgestellt wird.

Und dann fiel ich in anderem Zusammenhang über einen Aufsatz von Ely Przybylo. Darin geht es unter anderem um die Logik von Sexualität. Przybylo beruft sich auf Foucault: Sexualität sei ein Wissensbereich, der entwickelt wurde, um die Bevölkerungsentwicklung zu beeinflussen. Natürlich geschah diese Entwicklung nicht von einer einzelnen Stelle, sondern irgendwer merkte, dass irgendein Wissen praktisch war, andere bekamen Wind davon, daraufhin wurde die Wissensproduktion gefördert, etc. Und auf einmal sind wir heute, wo Sexualität nicht mehr als Maßstab eines gesunden, glücklichen Lebens wegzudenken ist.

Zur Logik der Wissensproduktion über Sexualität gehöre demnach das öffentliche Geständnis. Aus dem, was wie geschildert wird, lernt die Öffentlichkeit, was erwünscht und normal ist. Und wenn etwas als unnormal markiert wird, kann sich die Öffentlichkeit dank des Vergleichs darin sonnen, wie normal sie doch ist.

Heißt, wenn ich etwas erzähle, das als unnormal markiert ist — und sobald es darum geht, dass ich in meiner Eigenschaft als Ace und damit Minderheit befragt werde, bin ich markiert — dann dient sämtliche Beantwortung intimer Fragen hauptsächlich dazu, 99 Prozent der Lesenden in ihrer Normalität zu bestätigen.

Dabei wird diese Bestätigung mir außerdem keinen Dank einbringen, wie Kübra Gümüşay in ihrem Buch Sprache und Sein bemerkt. Die Mehrheitsgesellschaft beruft sich zunächst auf ein Recht darauf zu erfahren, wie oft, warum und ob die portraitierte Person was getan hat. Wer sich aber dem Geständnisdruck beugt, gibt zu, unnormal zu sein und eine Maßregelung zu benötigen. Ob diese sich dann in der Herablassung der Fragenden und/oder später in der Kommentarspalte äußert, ist unerheblich.

Was ich also wusste, aber nicht erklären konnte, haben Przybolo und Gümüşay in klare Worte gefasst.

Ich mag „normal“ als Wort nur, wenn es um Blutdruck, Serumspiegel und so was geht. Wo ein unnormaler Wert eben kurz- bis langfristig Menschen ins Krankenhaus oder in den Sarg befördern kann. Ansonsten gibt es keine Veranlassung, „normal“ zu verwenden und sich noch was drauf einzubilden.

Und daher möchte ich auch weiterhin nicht dazu beitragen, dass irgendwer das eigene normale Ego streichelt.


Referenzen/Weiterlesen:

Ela Przybylo, Crisis and safety: The asexual in sexusociety, Sexualities 2011 14: 444, https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1363460711406461

Kübra Gümüşay, Sprache und Sein, ISBN 978 3 442 77125 7

Bildquelle: Image by Tumisu, please consider ☕ Thank you! 🤗 from Pixabay

Mittwinter/Feierdäg/(Zehn-)Jahresrückblende, 2011-2021

Meineeine hatte dieses Jahr im Sommer zehnjährige WordPressanmeldung. Erster Eintrag damals: Mal schauen, wie lange ich durchhalte

Aber selbst so ein seltenes Tier wie ich möchte lieber nicht nur existieren, sondern leben.

(Manchmal schreibt die DeWinter DOch erstaunlich haltbares Zeug)

Damals hatte ich viel Ambition und erst drei Kurzgeschichten unter meinem Klarnamen veröffentlicht.

Die Titel-Eule war jedoch schon ein paar Jahre früher für mein fanfiction.net-Konto in Gebrauch. Aber ich mag diese schlechtgelaunte Eule so sehr, dass ich sie immer noch gern verbreite. Spezies unbekannt, geknipst 2007 im Zoo von Calgary. Carmilla DeWinter wurde übrigens 2005 als Pseudonym für Fanfiction gefunden und ist damit bereits sechzehn.

Eule im Blechrohr, mittäglich mies gelaunt

Ansonsten war 2021 ein Sachbuch zu feiern. Die gesammelte Presselandschaft hat den Verlag, Das asexuelle Spektrum und mich gezielt ignoriert, umso netter ist es natürlich, dass trotzdem Menschen das Buch gelesen und besprochen haben (merci hier an den Blog des Queer-Lexikons, dessen andere Artikel ebenfalls empfehlenswert sind).

Mit der Ko-Konspirantin Carmen Keßler/DasTenna habe ich eine Anthologie herausgegeben. Das Beweisstück A hat gute 700 Exemplare verkauft und für das Projekt 100% Mensch ein hübsches Sümmchen eingespielt.

Außerdem habe ich total verpeilt zu erwähnen (Grund die Wolken von unten), dass da noch eine Kurzgeschichte war, ebenfalls als Benefiz, aber diesmal für die Weissenburg, ein queeres Zentrum in Stuttgart. Nämlich One Track Mind – Immer nur das Eine in Die Melodie zwischen uns. Wer noch ein bisschen Gay-Romanzen für die Feiertage sucht: Es sind ein paar sehr hübsche dabei.

Als ich One Track Mind im letzten Herbst abgeliefert hatte, wollte Svea Lundberg, die Herausgeberin, unbedingt wissen, was weiter passiert. Daraus erwuchsen einige zehntausend Wörter, die noch nicht fertig sind. Es werde Corona-verarbeit-Seifenoper! Diesmal komplett ohne Fantasy.

Ansonsten war das Jahr eben Pandemiejahr zum Zweiten. Irgendwo zwischen medialer Aufregung und dem privaten Gefühl, dass wenig passiert, wenn du deinen Kram (Sachbuch etc.) nicht so recht mit Leuten feiern kannst. Weil online ist zwar nett, aber halt ohne Umarmung. Und Lesungen, so selten ich sie sonst bestreite, haben doch gefehlt.

So gesehen waren die immer mal wieder auftauchenden Depri-Gewitterwolken erstaunlich milde und kurz. Nachdem ich im November die anthologische Ko-Konspirantin nach einem Wochenendbesuch verlassen musste, war dann auch erst mal ein paar Wochen nix mit großen Lichtblicken. (Der Ko-Konspirantin ging es wohl ähnlich, bloß hat sie ein Monster und ich habe Gewitterwolken, die sind nicht ganz gut geeignet, um Leuten Schuldgefühle einzureden.)

Und Migräne war sowieso (und ist heute schon wieder). Wenn das Wetter per Klimawandel so bleibt, kann ich mich zu jedem Jahreszeitenwechsel wohl auf drei bis vier Wochen Naratriptan- und Thomapyrin-Dauerfeuer einstellen. Es sei denn, die Menopause rettet mich rechtzeitig. Klar kann ich mich nun fragen, ob dieses Jahr Depri-Wolken und Migräne miteinander zusammenhängen. Nur, weil die Tablette den Schmerz wegmacht, heißt das ja nicht, dass der Migräneanfall vorbei ist, und Migräneanfälle sind prima Energieräuber. Mit Schmerzen habe ich üblicherweise nicht mal die Energie mich darüber aufzuregen, dass ich Schmerzen habe. Und manchmal schaffe ich es kaum aus dem Bett, um eine Tablette einzuwerfen. Prost!

Mit Triptanen wird dann die Antidepressivasuche auch lustig (nicht), weshalb ich noch nicht so weit bin, die Ärzteschaft damit zu behelligen. Immerhin: Ich schlafe durch, ich kann mich noch über Zeug freuen, ich fange nicht aus Überforderung an zu heulen, und ich kriege mehr als das Nötigste gebacken. Zimmerpflanzen sind auch noch keine gestorben. Also isses zwar nervig, aber nicht lebensbedrohlich.

Jedenfalls. Nein, ich möchte bitte hier nicht über Sinn und Unsinn von manchen Regelungen und die Existenz von Coronaviren diskutieren. Bringt nichts. Eins kann nur hoffen, dass wir beim nächsten Mal klüger sind, und das nächste Mal wird uns garantiert nicht erspart bleiben. 2009 hatten wir halt Glück, dass zwar Pandemie war, aber halt keine, die den hiesigen Stadtrat innerhalb von 18 Monaten gleich um zwei Menschen erleichtert hat.

Ansonsten: Es war immerhin richtig CSD! Bloß ist dank Pandemie die Stammtisch-Infrastruktur zusammengebrochen, weshalb es schwieriger war, Menschen zu rekrutieren.

Juni 2021, CSD Karlsruhe, als das Wägelchen und ich noch trocken waren

Während die Seifenoper noch wächst, wird im Frühjahr bei Edition Roter Drache Lokis Fesseln erscheinen. Cover-Freude dann separat nach den Feiertagen. Ich hoffe, wie die eine oder anderen Blog- und Schreibkollegin, dass 2022 mal wieder Buchmesse Leipzig wird.

Den Rohentwurf für dieses Posting habe ich einen Tag vor Jul / Wintersonnenwende 2021 getippt. Heute ist Jul, und gleich beginnt die längste Nacht des Jahres. Grade bei so Mistwetter im Hirn ist das ein schönes Datum, und irgendwie auch ein bisschen konkretere Hoffnung als so ein Kind, das dich vor einer Hölle rettet, an die du vielleicht Schwierigkeiten zu glauben hast. In meiner Hölle sitzt Hel jedenfalls mit Baldr am Tisch in ihrer Halle und hebt gemütlich einen.

Kürzester Tag des Jahres 2021, Pforzheim, ziemlich genau 12 Uhr mittags.

Wie auch immer, egal, ob und wie und was ihr feiert, ich hoffe, ihr könnt die Feiertage genießen.