Fortwährdende Entsolidarisierungen

Manchmal hilft es nur, sich die Beleidigung zu eigen zu machen.

Anekdotische Beispielsammlung

Da ist das Elternteil, das dem offen queeren Nachwuchs stolz berichtet, es hätte bei der letzten Bundestagswahl statt CSU das Bündnis Sarah Wagenknecht gewählt. (Beide Truppen kamen in Sachen queer nicht besonders gut weg bei den Wahlprüfsteinen.)

Eine mir bekannte trans Frau zitiert eins ihrer Elternteile: „Da kommt ein langer, harter Kampf auf euch zu.“

Meine migrantisch lesbare Bankberaterin blickt nicht, dass ich gegebenenfalls lieber auf etwas Gewinn verzichte, als weiter in Fonds zu investieren, die Meta und Elon-Hitlergruß-Musk reicher machen.

(Ich investiere in Fonds, die Immobilien im Portfolio haben. Ist das als Person, die zur Miete wohnt, vertretbar?)

Es gibt eine kleine Truppe sehr lauter lesbischer Frauen, die Hass auf trans Personen zu ihrem Markenkern gemacht haben.

Nachdem Geflüchtete in Hamburg eine Bezahlkarte haben, sollen jetzt auch Personen mit Bürgergeld eine bekommen.

Diverse migrantische Personen in meinem Umfeld haben nichts Besseres zu tun, als auf Personen neidisch zu sein, die später nach Deutschland gekommen sind als sie selbst.

Und so weiter.

System dahinter?

Nach Solidarität zu rufen ist einfach. Solidarisch sein weniger. Das ist nicht neu, aber in Zeiten von Autoritarismus noch eine ganz andere Hausnummer als vor 2008.

Wir sehen derzeit, dass folgende Gruppen besonders angegangen werden: muslimische Geflüchtete, trans Personen, Personen ohne Arbeit.

Derartige Auseinzelungen haben selbstverständlich System.

Muslimische Personen, die vor 2001 zugezogen oder hier geboren sind (zumeist aus der Türkei, Iran, Nordarfrika bzw. deren Eltern oder Großeltern von dort stammen) werden eingeladen, Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak zum Teufel zu wünschen. Wenn ich die entsprechenden jungen Kolleginnen so angucke, funktioniert das hervorragend.

Die lesbischen Personen wie Alice Schwarzer, die gegen trans Personen auffahren, gibt es schon seit den 1970ern. Neu ist, dass die Politik gemerkt hat, dass sie sich dieser Personengruppe bedienen kann, um gegen das SBG und überhaupt die medizinische und psychosoziale Versorgung von trans Personen mobil zu machen. Ich weiß nicht, ob und wie die anti-trans Frauen merken, dass sie sich von Nazis instrumentalisieren lassen.

Mit der permanenten Unterstellung, dass Personen, die Bürgergeld bekommen, eigentlich arbeiten könnten, werden Personen aus dem Niedriglohnsektor zum Hass eingeladen – und dazu, sich mit ihrem miesen Mindestlohn zufriedenzugeben. (Debunking solcher Mythen durch sanktionsfrei e.V.)

Sich unter einer bereits marginalsierten Gruppe die Schwächsten rauszupicken, ist Teil des antidemokratischen Rollbacks. Tatsächlich scheint es Teil des menschlichen Systems zum Stressabau, nach unten zu treten (die Klimakatastrophe ist halt auch schlecht am Kragen zu packen). Autokratien erhöhen künstlich den Stress, auch bekannt als „flood the zone with shit„, was dann logischerweise Entsolidarisierungen zufolge hat.

Martin Niemöller hat das in markante Verse gepackt:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist …
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

(Nach Wikipedia ging das Gedicht durch mehrere Fassungen.)

Spätestens nach Merz‘ Aussagen sollte aber das Regenbogenfarbene Zirkuszeltkollektiv (auch bekannt als LGBTQIA+ Community) gemerkt haben, dass der Rollback gegen die TNQ-Fraktion nur der Anfang ist.

Genauso wurde ja schon beim Potsdamer Treffen 2023 gegen „integrationsunwillige“ muslimische Personen mit deutschem Pass geplant, insofern ist Hass gegen die später Zugezogenen zwar verständlich, aber am Ende genau das, was Rechten von uns wollen.

Lösungsversuche

Das Kollektiv Save Sciene beobachtet:

The relative powerlessness and stigma of targeted groups often leads to a lack of solidarity with victims during democratic backsliding, but this is a critical and preventable error. Privileged folks should stand up for the persecuted as authoritarianism rises, because it is a lot easier to stop persecution of minorities when it is still controversial than to defy it when repression has reached the mainstream and become accepted as conventional.

„Die relative Machtlosigkeit und das Stigma, das auf den attackierten Gruppen lastet, führt oft zu einem Mangel an Solidarität mit den Opfern während eines Demokratieabbaus, dies ist jedoch ein kritischer und vermeidbarer Fehler. Privilegierte Personen sollten für die Verfolgten eintreten, während der Autoritarimus an Boden gewinnt, denn es ist sehr viel einfacher, die Verfolgung von Minderheiten zu stoppen, während diese noch kontrovers diskutiert wird, als sich gegen die Repression zu stellen, sobald diese den Mainstream erreicht hat und als normal akzeptiert wurde.“
(Übersetzung durch die Autorin dieses Postings, Hervorhebung ebenfalls.)

Quelle: The Anti-Autocracy Handbook. A Scholar’s Guide to Navigating Democratic Backsliding. Open access unter https://zenodo.org/records/15696097

Was auch erklärt, warum Die Linke als Partei erhöhten Zulauf hat. Die sind einfach radikal solidarisch und machen den Job, den eigentlich die SPD zum Großteil erledigen sollte. Bezahlbare Mieten, höhere Steuern für Reiche, und: Sie sind nicht auf das Sündebock-Narrativ der bösen Geflüchteten reingefallen. Etc. pp.

… Jetzt ist die Frage: Kriegt die politische Linke es hin, ihre Grabenkämpfe (beispielsweise zu Waffenlieferungen an die Ukraine) als „agree to disagree“ zu behandeln, sodass wir die Rechten und religiösen Faschisten an der Machübernahme hindern können?


(Mit Entschuldigungen an Martin Dannecker.)

Linien im Sand

So. Anlassbezogen mehr Politik.

Nachgestellter Tatort eines Mordes: Körperumriss, der mit Klebeband auf einen Fußboden angedeutet wurde. Ein roter Fleck suggeriert Blut.
Tödliche Linien auf dem Boden. Hier war ein Alien das (fiktive) Opfer. Throwback zur Leipziger Buchmesse 2018.

Ich bin ja auch nicht so glücklich mit allem. Oder, um ein Politikteil von Zeit Online zu paraphrasieren: Wenn du einen Haufen Steuern zahlst, sollte wenigstens die Verwaltung funktionieren und beispielsweise genug Betreungs- und Lehrkräfte in halbwegs intakten Schulen vorhanden sein.

Ein paar Sachen sind da sicher das Wohlstands-Paradox: Je mehr verschiedene Pflegezuschüsse o. ä. es gibt, desto eher brauchst du eine Sozialarbeiterin im Gesundheitsamt, die den Leuten sagt, welches Formular sie wann ausfüllen sollen/dürfen. Je mehr Straßen du hast, desto mehr musst du investieren, um sie befahrbar zu halten. Insofern sollte jede neue Straße gut bedacht sein und öffentliche Gebäude könnte eins vielleicht so bauen, dass sie gut zu pflegen und sanieren sind? (Guckt das hiesige brutalistische Rathaus an. Hmm.)

Wo die andere Kohle hinfließt – hm. Meine Heimatstadt hat zum Beispiel 1,4 Millionen Euro für eine unausgegorene Kunstsache rausgeballert, die m. E. besser in einen neuen Aufzug in der kombinierten Musikschule/Stadtbibliothek geflossen wären und so was.

Die Bundesregierung legt übrigens regelmäßig Subventionsberichte vor. (Achtung, das Dokument von 2021-24 ist ein großes PDF.) Über die Höhe und den Grund einzelner Posten ließe sich sicherlich streiten, vor allem, wenn gefühlt wenig bei rumkommt. (Forschungsgelder für die Automobilbranche zum Beispiel: Abgasskandal bei VW. E-Autos kommen nicht so in die Pötte, wie sie es optimalerweise täten. Auch Herr Spahns Maskendeals lassen sich da aus 2021 finden.)

Jedenfalls. In manchen Teilen der Bevölkerung herrscht irgendwie das Gefühl vor dass „alle“ (sic!) oder auf jeden Fall zu viele Steuern im Ausland landen, oder auf jeden Fall, dass alle anderen mehr Vorteile haben als eins selbst, obwohl sie diese Vorteile nicht verdienen.

Da hat dann der rechte Populismus einen echt klasse Job abgeliefert. Der Job ist in dem Fall, Linien zu ziehen.

Was im Fall von Migration Linien sind wie zwischen „echten“ Deutschen, Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft, erwünschten und unerwünschten Zugewanderten ohne Staatsbürgerschaft. Drei Linien, deren Definition sich übrigens jederzeit verschieben lässt, sobald sie mal gezogen wurden. Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft kann ich einen Pass entziehen, auch wenn sich das eigentlich nicht gehört. Vor allem, weil „straffällig“ ein extrem dehnbarer Begriff ist.

Sobald das durch ist, wackelt auch die Grenze zwischen „echten“ und „unechten“ Deutschen. Sind Deutsche islamischen oder jüdischen Glaubens deutsch genug? Warum trägt die Ehefrau dieses Erwerbsunfähigen eigentlich Hijab? Ist die integriert und verdient das Paar dann, Kindergeld zu beziehen? Was ist mit kritischen Stimmen? Sind die aufrechte Deutsche genug? (Die DDR hat gern Kunstschaffende ausgebürgert.) Was ist mit Menschen, die behindert sind/werden? Mit Arbeitslosen, die gefühlt zu faul sind, um zu arbeiten? Mit trans Personen, die die Linie zwischen Männern und Frauen gefährden? Sind die es wert, in diesem Land leben zu dürfen? Und wenn ja, welche Rechte gestehen wir ihnen zu?

Genauso die Linie zwischen Erwerbslosen, die es würdig sind, unterstützt zu werden, und solchen, die es nicht sind: Sobald ich eine Linie gezogen habe, die suggeriert, dass eine Gruppe weniger wert ist, kann ich die Torpfosten versetzen. Bis halt alle Erwerbs- und Wohnungslosen zum Beispiel im Arbeitshaus landen. (Idee u. a. aus dem kolonialen England. Null von Zehn, do not recommend, siehe Charles Dickens.)

Insofern mag ich das Narrativ von „Arbeit muss sich wieder lohnen“ nicht so gern. Wenn die Kohle aus dem Vollzeitjob nicht zum Leben reicht, sollte ich mich vielleicht eher fragen, ob der Mindestlohn zu knapp bemessen ist oder die Mieten völlig überteuert sind, anstatt Erwerbslose zu bashen?

Aber auf angeblichen „Sozialschmarotzern“ rumzuhacken, ist viel einfacher und entmenschlicht sie noch.

Und sobald ich dieses Narrativ aufnehme, haben die Rechten gewonnen. Das wissen die Leute Rechts außen, aber die anderen merken es immer zu spät.

Immer der gleiche Mist? Über das Nichtwählen.

Im letzten Jahr hat mein Vereinchen zwei Kampagnen unterstützt, die darauf abzielten, Nichtwählende für die Europa- und die Kommunalwahlen zu aktivieren.

Seit dem 8. Januar läuft eine Kampagne des CSD Deutschland, die „Wähl Liebe“ heißt und eben auch Nichtwählende aktivieren soll.

Am 15. Februar um 5 vor 12 sind in zahlreichen Städten Demos und Kundgebungen geplant – für Vielfalt und Menschenrechte. Personen von außerhalb der Buchstabensuppe sind herzlich willkommen.

Ich habe in meiner mittelnahen Umgebung mindestens zwei Personen, die lieber nicht wählen. Die Begründung lautet jeweils im übertragenen Sinne: „Die Parteien sind doch alle Scheiße, warum soll ich da noch wählen gehen?“

Scheiße ist ein Spektrum

Wir sollten uns hierbei zunächst ins Gedächtnis rufen, dass „Scheiße“ kein digitaler, sondern ein analoger Zustand ist: Also, es ist selten etwas nur Scheiße oder nur keine Scheiße.

Klar, Hundekacke auf dem Gehweg oder sogar im Sandkasten: 100 % beschissen.

Frische Kuhfladen auf dem nicht geteerten Weg: Gibt Schlimmeres.

Dung von pflanzenfressenden Tieren getrocknet und gepresst als Naturdünger für den Garten? Per definitonem Mist, geben Leute beim Aldi aber Geld dafür aus.

Wenn wir das mal aufs echte Leben und meine Lebensrealität als gebärfähige Person übertragen:

Absolutes Verbot von Schwangerschaftsabrüchen: 100 % beschissen.

Derzeitiger Zustand mit Fristregel: Nicht optimal, gibt aber offensichtlich Schlimmeres. Siehe oben bzw. USA oder Goethes Faust, der Tragödie Erster Teil.

Abschaffung von Paragraph 218 Strafgesetzbuch: 0 % beschissen.

Wir sehen also: Was den einen „alles der gleiche Scheiß“ ist, ist für andere durchaus überlebenswichtig. (Ja, Frauen können an Schwangerschaftskomplikationen sterben. Auch 2025 noch. Und sich einen Schwangerschaftsdiabetes für ein ungewolltes Kind einzufangen, find ich jetzt auch nicht so prickelnd.)

Demokatie ist kein Supermarkt

Wenn verschiedenes Zeugs von außen nach dem gleichen Kackhaufen-Emoji aussieht, lohnt sich vielleicht ein genauerer Blick. Was dem einen ein Kackhaufen, ist dem anderen die Drohung einer Gefängnisstrafe oder eben nicht.

Wenn es dir egal ist, ist es vielleicht deinem Freundeskreis oder deiner Verwandtschaft nicht egal? Dann erweist du manchen deiner lieben Menschen mit deiner Verweigerungshaltung vielleicht einen Bärendienst.

Aber so ein genauer Blick ist anstrengend, genauso, wie verschiedene Positionen zu hören und abzuwägen? Und am Ende passiert immer weniger, als du gehofft hast.

Ich weiß. Demokratie ist halt kein Supermarkt, wo du reinlaufen kannst, was raussuchen und dann hast du am Ende genau das Produkt, was du haben wolltest. Du musst erstens was reintragen: zumindest die Disziplin, dich ein bisschen zu informieren und dich nicht über jede Aufreger-Überschrift blindlings aufzuregen.

Zweitens musst du mit Kompromissen leben können – in dem Land wohnst du ja nicht allein.

Sonst ist am Ende die Demokratie weg und deine ganzen Möglichkeiten, jede Partei öffentlich Scheiße zu finden zu dürfen, mit dazu.

Oh ja, und dann gibt es da noch diese total irrwitzige Möglichkeit, in eine Partei einzutreten und an deren Programm mitzuarbeiten

(… aber du hast keine Zeit?

Hm-hmm.

Wie viel von deiner Zeit verbringst du eigentlich mit Doomscrolling?)


Edits: Am 16.1. einen Tippfehler ausgebessert. Die Autorin ist so eingebildet, derartige Texte ohne Rechtschreibkorrektur oder gar KI in den Editor zu tippen und dann manchmal sogar noch am gleichen Tag zu posten.

Verteilungskämpfe

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Oder: Warum meine neusten Figuren unverbesserliche Hipster ohne eigene Autos sind anhand aktueller Beispiele.

Landtagswahlen in Bayern und Hessen sind rum. Am letzten Sonntagmorgen kam im Radio eine Meldung, dass die CSU jetzt genau analysieren will, warum die Leute zur AfD und den Grünen abgewandert sind. Außerdem noch eine Meldung, dass die SPD wieder ihre Arbeitspolitik in den Vordergrund rücken möchte, um damit Stimmen zurückzuholen.

Ich habe auch irgendwo gelesen, dass Arbeit eben nicht das Thema der Zeit sei, sondern Migration, und dass die diametral gegensätzlichen Positionen eben von AfD und Grünen bedient würden, und sie deshalb so viel Zulauf hätten.

Und ich denke … hmm. Jein.

Seien wir mal ehrlich: Sehr viele Leute reißen sich den Arsch auf, damit ihre Kinder es mal besser haben als sie.

Frage: Was ist eine bessere Zukunft?

Ist ein Skiurlaub in einem für Pisten zur Unkenntlichkeit zerstörten Gebirge plus zwei Flugreisen im Jahr „besser“? Ist ein eigenes Auto für den im Haus lebenden Sprössling „besser“? Wie viele Schränke voll Klamotten zählen als „besser“? Wieso füllen manche Ein-Personen-Haushalte monatlich mehr als einen halben gelben Sack mit Plastikmüll? Ist ein neues Smartphone alle zwei Jahre notwendig oder pervers? Wieso halten die Teile eigentlich auch nicht viel länger, ohne rumzumucken?

Wieso ist es billiger, eine neues Waschmaschine zu kaufen, als die alte zu reparieren?

Ab welchem Grad leben wir über die ökologisch sinnvollen Verhältnisse? Und zwar so, dass wir absehen können, dass die Enkel oder Urenkel es eben nicht besser haben werden, sondern mit Pech eine postapokalyptische Welt besiedeln?

Und zwar ganz ohne Zombies und Nuklearkatastrophe, sondern nur mit verändertem Klima? Also, so die richtige A-Karte …

Dazu müssen wir folgende Fakten rechnen: Eine Welt, in der es seit Jahren auf dem Sparkonto fast keine Zinsen mehr gibt. Eine Welt, in der Leute sagenhaft billige Kredite aufnehmen können, um Wohneigentum zu finanzieren, aber gleichzeitig um ihre Jobs bangen.

Ein mir bekannter Buchhaltungsexperte hat sich aus seiner eigenen Firma wegrationalisiert, indem er ein neues Computerprogramm implementiert hat.

So was blüht angeblich einem Haufen Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren. Es gibt Leute, die durch Big Data und künstliche Intelligenz ein Wegsterben von 30% oder mehr aller Arbeitsplätze prophezeihen.

Gleichzeitig sind Arbeitsplätze, die wirklich wichtig sind und nicht ersetzt werden können — in der Pflege, beispielsweise — schlecht angesehen und/oder mies bezahlt und/oder haben offen gesagt beschissene Bedingungen. Wie ein befreundeter Arzt in etwa meinte: „Ich arbeite derzeit um die 52 Stunden die Woche, obwohl ich mir nach Nachtdiensten den Tag freinehmen muss. Ich würde mit Kusshand in einem echten Schichtdienst arbeiten, wenn ich dann tatsächlich eine 40-Stunden-Woche hätte und meine Kinder öfter sehen könnte.“ (Pflegekräften geht’s ähnlich, nur mit weniger Geld, weniger Anerkennung und mehr Rückenbeschwerden.)

Die sogenannte Mittelschicht jedenfalls sieht ihre Privilegien und Felle davonschwimmen — der sinnfreie SUV für die Zone 30 dient dann wohl auch dazu, darzustellen, dass eine sich keine Sorgen machen muss. Während Leute wie ich schon lange damit abgeschlossen haben, dass sie nie den Wohlstand erreichen werden, den ihre Eltern zu den besten Zeiten genossen haben.

Respektive könnte ich es schon versuchen: Als selbstständige Apothekerin mit 60-Stunden-Woche und mit Pech ohne Urlaub. Dazu mangelt es mir aber an dem Willen, Leuten unnötigen Scheiß in Plastikverpackungen und Aluminium zu verkaufen.

Und ehrlich: Wozu? Zumal das entscheidende Wörtchen „versuchen“ heißt. Garantiert ist bei den derzeitigen Marktbedingungen nichts außer Stress. Und, mit sehr viel Pech, siehe oben, apokalyptische Zustände, bei denen ich an die illegal in die Schweiz geschaffte Kohle eh nicht mehr rankomme.

Bei der derzeitigen Aussicht beschließen denn manche mit sozioökomisch niedrigem Status, dass sie gleich fragwürdig wenig Grundsicherung beziehen können, statt für fragwürdig wenig Mindestlohn zu malochen und sich dann eine Wohnung in einer Metropolregion doch nicht leisten zu können. „Hartz Vier und der Tag gehört dir“, um eine Bekannte zu zitieren.

Der Kapitalismus frisst seine Kinder

Dauerwachstum funktioniert ab einem gewissen Grad eben nicht mehr.

Es ist also ein gewisses Unbehagen in der Kultur, behaupte ich mal. Weil halbwegs aufmerksame Personen ahnen, dass viele von uns gerade wie die Haute Volée auf der Titanic feiern, obwohl das Schiff den Eisberg schon gerammt hat.

Es gibt einen Grund, warum Dystopien en vogue sind unter den Jugendlichen. Und es gibt einen Grund, warum Thanos, der Titan, bei Marvel nicht mehr die Dame Tod umwirbt, sondern eine Umweltkatastrophe galaktischen Ausmaßes verhindern möchte.

Die AfD behauptet, dass dieses Unbehagen verschwinden würde, wenn wir alle rauswerfen, die nicht arisch genug aussehen, wenn jede Frau wieder mindestens drei Kinder hat und nicht mehr arbeiten geht, wenn Menschen gleichen Geschlechts nicht heiraten dürfen und wir die Unterstützung für Alleinerziehende genauso kappen wie sämtliche Ziele, den CO2-Ausstoß zu verringern.

Die Grünen behaupten in etwa das Gegenteil: Wir besteuern unnötigen Scheiß, schränken die wüstesten Auswüchse des Kapitalismus ein und haben hoffentlich eine Welt, in der Kinder jedweder Hautfarbe auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik einigermaßen gut leben können. Außerdem wissen sie, dass das Wetter sich einen Scheiß um Landesgrenzen kümmert.

Dieses Gegenteil erfordert aber den Griff an die eigene Nase und davor fünf Minuten Nachdenken, was erklärt, warum die Grünen bei Wahlen nicht so viel besser abschneiden, wie nachdenkende Personen sich das vielleicht wünschen würden.

Ich glaube nicht, dass ich die erste Person bin, die diese Beobachtungen gemacht hat und einen Zusammenhang sieht. Und das mit dem Grundeinkommen nicht so doof findet. Ich würde nämlich gern mehr soziales Ehrenamt, aber das hindert eine so am Geldverdienen.

Da ich keine Politikerin bin, schreibe ich halt über Hipster, die völlig unironisch kein Auto besitzen und Jutebeutel benutzen.

Jedenfalls: Irgendwer muss doch Arsch genug in der Hose haben, mit den Leuten mal Tacheles zu reden, statt ihnen vorzugaukeln, dass die Party ewig so weitergehen kann?

Jungfrau, Mutter, Vettel, Ass?

Ich war im Juli in der Medienlandschaft präsent. (SpOn, Baby.)

CH-NB-Kartenspiel mit Schweizer Ansichten-19541-page057Jedenfalls wurde ich mal wieder danach gefragt, was ich in den vergangenen zwanzig Jahren sexuell so erlebt habe, und ich habe wie immer keine detaillierte Antwort gegeben.

Andere interviewte Menschen aus dem asexuellen Spektrum mögen das anders sehen (winkt), aber von mir gibt es prinzipiell keine Detailauskünfte. Vielleicht habe ich auf einem Konzert mit wem rumgemacht, vielleicht auch nicht. Vielleicht habe ich mich auf einer Fete aus Neugier betrunken abschleppen lassen, vielleicht auch nicht. Vielleicht habe ich nichts zu berichten, vielleicht auch nicht. Vielleicht hab ich etwas getan, auf das ich nicht besonders stolz bin, vielleicht aber auch nicht.

Es sollte eigentlich egal sein.

Oder? Es ist 2018.

Wenn wer freiwillig aus seiner/ihrer sexuellen Vergangenheit erzählt, dann finde ich das völlig in Ordnung und teils sogar bewundernswert. Denn einige sind mit Details großzügig, um unsicheren und fragenden Menschen zu versichern, dass das nicht nur ihnen so geht/ging.

Und wenn eine nicht mit Details rausrückt?

Dann sollte eins nicht danach fragen. Weil’s den Rest der Welt nichts angeht. Was ich getan oder nicht getan habe, ist sowieso je nach Gusto der Lesenden entweder zu viel, um noch als asexuell durchzugehen, oder zu wenig, um zu beweisen, dass ich versucht habe, „normal“ zu sein.

Abgesehen davon scheint es mir, dass Frauen mehr diesbezügliche Dinge gefragt werden. Mag auch daran liegen, dass in einschlägigen Interviews meistens Frauen  zu Wort kommen.

Insgesamt aber habe ich das nagende Gefühl, dass diese Gesellschaft sich immer noch auf einem geradezu mittelalterlichen Niveau dafür interessiert, ob, wie oft, wie und mit wem Menschen mit Gebärmutter ihre Geschlechtsteile benutzen. Um dann zu bewerten, ob es zu oft, zu selten, mit der richtigen Person (Notiz: es darf nur eine gleichzeitig sein) und in einer derzeit akzeptablen Weise stattfindet und ob zu wenige oder zu viele Kinder dabei rausgekommen sind.

Dabei leben wir nicht mehr im Mittelalter.

Es gibt mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Welt. Wir könnten im Grunde ein paar weniger gebrauchen, vor allem von denen, die per Gewohnheitsrecht jede noch so kurze Strecke mit dem Auto fahren, täglich tote Viecher essen und jedes Jahr mindestens eine Flugreise unternehmen. (Eigene Nase? Ich? Wo? … Habe außerdem den nagenden Verdacht, dass die Verfechter:innen des herbeifantasierten „reinen deutschen Blutes“ sowas ahnen und auch deswegen gegen Schulaufklärung sind.)

Die Menschheit stirbt nicht mehr aus, wenn ein paar gebärfähige Menschen gar nicht oder nur zum Vergnügen poppen und keine Kinder haben.

Ehrlich nicht.

Ob’s nun aus Profession Neugierige sind oder der Rest der Republik, der beleidigt ist, wenn wer nicht mit den Infos rausrückt, und auf jeden Fall die, die meinen, ein Recht darauf zu haben, über fremde Gebärmuttern zu bestimmen: Entspannt euch mal.

Tagesgeschehen vs. Geplantes

 

Meine letzte Woche war gespickt mit Alltagskram und Veranstaltungsvorbereitungen, daher hatte ich wenig Zeit und Nerven, mich um den Anschlag in Orlando zu kümmern, und noch weniger, das Geschehen zu verarbeiten, geschweige denn über deren Tragweite nachzudenken. Eigentlich hatte ich für heute einen Schreibtmetapost in der Pipeline.

Je nach dem, wie die eigene Blase im Web aufgestellt ist, fühlt eine sich mal mehr, mal weniger verpflichtet, auf etwas zu reagieren. Abgesehen davon hat die Reaktionsfreudigkeit meiner Online-Blase auf terroristische Aktionen gefühlt ziemlich abgenommen. Mensch stumpft ab, anders lässt sich das Leben auch nicht ertragen.

Dennoch. Orlando geht an die Nieren, weil es eben nicht Leute traf, die zufällig gerade an einem belebten Ort waren, sondern weil gezielt auf eine Gruppe losgegangen wurde, die sowieso schon weniger Freiräume hat – an einem dieser mühsam erkämpften Freiräume. Freiräume, in denen ich mich ebenfalls gelegentlich aufhalten darf.

Klügere Leute als ich haben mehr dazu zu sagen …

Auf Englisch meint asexual feminist:

To give ISIS credit is to dismiss our own complicity in this attack. Mateen was an American citizen, fed on our values of homophobia and xenophobia.

„Dem IS dafür die Verantwortung zuzugestehen, heißt, unsere eigene Beteiligung an diesem Angriff zu verharmlosen. Matteen war ein amerikanischer Staatsbürger, der unsere Werte von Homophobie und Fremdenhass verinnerlicht hatte.“

Geflügel mit Worten schreibt über Freiräume und über den Opportunismus diverser politischer Gruppen, die den Anschlag für ihre eigenen Ziele nutzen möchten (persönlich zähle ich den IS dort dazu):

Und mir persönlich ist es wumpe, ob mich Islamisten erschießen oder Rechte tottreten, dafür, dass ich liebe, wen ich liebe, und bin, wer ich bin.

Und auch beim Zaunfink geht’s wie immer ans Eingemachte dieser Gesellschaft:

Überall müssen wir uns anhören, was wir jetzt tun müssen oder gerade eben nicht tun dürfen, weil sonst „die Terroristen schon gewonnen hätten“ oder gar, weil wir es „den Opfern schuldig“ seien. Und damit tun wir ironischerweise genau das, was die Terrorist*innen wirklich wollen, nämlich, unser Leben, unser Sprechen, unser Denken für einen recht ausgedehnten Zeitraum vollständig auf den Terrorismus und seine vermeintlichen Ziele zu konzentrieren. Wir übernehmen dabei eine Logik und Rhetorik der Angst und des Kampfes, und auch das ist genau so gewollt.

Insofern – wer weiß, ob dieser Linkspam klug war …

ETA: ReadOn stellt Fragen, die wir uns, ganz im Sinne des Zaunfinken, auch öfter mal stellen sollten:

Und warum zur Hölle wenn sie schon so am Vaterland hängen, gründen sie keinen Verein, der Bäume in öden Straßen pflanzt, Kinder die das Meer nicht kennen zum Strand fährt oder englische, iranische oder turkmenische Lieder studiert? Warum wenn sie doch G*ttes Namen immerzu im Munde führen, warum singen sie nicht im Kirchenchor oder backen Kekse für den Anbau einer neuen Moschee?

Produktiv aktiv(istisch) sein. Für statt gegen. Sollte doch machbar sein, oder?

Die Mär vom unpolitischen Schreiben

Hypermnestre écrivant BnF Français 874 fol. 175v

 

Via #schreibengegenrechts, geriet ich an eine Handvoll Blogposts von anderen Schreibenden. Also von solchen Menschen, die außer Blogposts noch andere Texte verfassen, ob fiktionale Prosa oder Poesie.

Zwei merkenswerte, die diesen Artikel mitverursacht haben, möchte ich hier verlinken, nämlich Matthias Engels darüber, wie mit der derzeitigen Lage umzugehen sei, und davon ausgehend Wolfgang Schnier über Freiheit.

Jedenfalls hielten einige dieser Autor*innen ihr Schreiben bis dato für unpolitisch.

Ja.

Ehrlich.

Ich finde das eine recht befremdliche Aussage von Menschen, die Geschichten erzählen, die nachher von anderen gelesen werden sollen.

Aber, werden manche einwenden, ich habe noch nie mit einem Gedicht gegen den Kapitalismus gewettert, oder noch nie einen Blogpost zum Klimawandel geschrieben, und noch nie in einer Geschichte eine politische Partei erwähnt.

Mag sein. Ich habe bis Mitte 2011 auch nicht politisch gebloggt. Trotzdem habe ich mir nur im Teeniealter den Luxus geleistet, zu glauben, meine Fiktion sei unpolitisch.

Irgendwann habe ich nämlich Folgendes begriffen, noch bevor Lisa Cron mit ihrem Schreibratgeber daherkam: Menschen leiten aus Geschichten Aussagen über die Natur des Menschen und der Welt her.

Stories erzielen einen Lerneffekt durch Mitleiden. Deswegen stehen die meisten von uns so auf Fiktion.

Schreibe ich zum Beispiel über Echte Kerle (TM), die den Tag retten, während ihre Treuen Frauen (TM) daheim auf sie warten, ist das eine politische Aussage. Sie bedeutet, dass ich nur Echten Kerlen (TM) zutraue, den Tag zu retten, und dass ich von deren Frauen erwarte, treu daheim zu bleiben und den Haushalt zu erledigen.

Eine einzelne solche Story mag ja nicht viel Gewicht haben, aber irgendwie … sind sie überall. Seit Jahrtausenden.

Logischerweise leitet sich dank reiner Masse das Publikum die Aussage her, dass Frauen und solche, die dafür gehalten werden, nicht so wichtig sind wie Männer und solche, die dafür gehalten werden.

Doch politische Aussagen finden auch subtilere Wege:

Hat das zerstrittene, gut situierte Ehepaar 50+ in meinem Gesellschaftsroman eine Reinigungskraft? Wie heißt die? Verdient sie in der Story überhaupt einen Namen? Woher kommt sie? Wieso geht sie putzen, obwohl sie mal in Irkutsk Kinderkrankenpflegerin war? Ist sie angemeldet?

Wieso erzähle ich überhaupt von einem zerstrittenen deutschen Ehepaar 50+ statt über Inna, die kürzlich ihren Mann verlassen hat und außerdem nicht weiß, wie sie ihrer begabten Tochter weiter den Gesangsunterricht finanzieren soll?

Schon mit der Wahl, über ein gut situiertes Ehepaar zu schreiben statt über eine Reinigungskraft, bewerte ich die Verhältnisse in diesem Staat. Reich = wichtig. Nicht sozialversicherte Putze = uninteressant.

Auch das ist eine politische Aussage. Und vielleicht ist sie gefährlicher als ein mies gereimter Protestsong, denn die Botschaft fällt ja nicht auf, sondern versteckt sich unter einem Haufen Ehedrama.

Selbiges funktioniert im übrigen auch mit Fantasy. Ist eigentlich schon mal wem aufgefallen, dass Harry Potter keine Fremdsprache in der Schule lernen muss, sich aber über die Aktzente der Schüler*innen aus Beauxbatons und Durmstrang lustig machen darf? (Aber wenigstens kommen die Hauselfen zu ihrem Recht …)

Insofern ist es durchaus angebracht, als Autor*in zu überlegen, welche Macht ich habe, und wie ich sie nutze.