Gelesen 2024

Schon wieder ein Jahr um? Ich fand es gar nicht so kurz, aber an den nicht fanfictionesken gelesenen Werken lässt sich das kaum absehen. (Vielleicht aber an jenen Fanfictions, die ich geschrieben habe, auch wenn noch nicht alle gepostet sind.)

Ich wünsche uns allen jedenfalls, dass es anno 2025 möglichst wenig Grund zum Eskapismus geben möge.

Und damit die Liste:

Isa Theoald: Anouk 3 – Mal wieder ein so amüsanter wie rasanter Ritt, unter anderem durch das Jenseits, verwunschene Gartenfeste und eine Luxusvilla.

Luci van Org: Wir fünf und ich und die Toten. Ein Buch für Kinder von schlechten Eltern, sagt die Autorin. Auch für Kinder von so mittel Eltern bis guten Eltern ist diese gruselige Novelle eine spannende und vielleicht auch herzerweiternde Lektüre.

bell hooks: Ain’t I a Woman. Ein kluges Buch über Schwarze Frauen und ihre Kämpfe mit weißen Feminist*innen. Sicher noch mal zu lesen.

Mirna Funk: Von Juden lernen. Eine kurzer Parforceritt durch die jüdische Philosophie, die teils weit vom abendländischen Entweder-Oder entfernt ist. Ich komme nicht immer bei den gleichen Schlussfolgerungen heraus (in Sachen Wirtschaft neige ich zu weniger Sozialdarwinismus), aber der Weg dorthin ist äußerst lehrreich. Zur Horizonterweiterung von christlich sozialisierten Menschen empfehlenswert.

Alice Hasters: Identitätskrise. Betrachtungen über die Welt nach dem angeblichen Ende der Geschichte. Muss ich wohl auch noch mal lesen, denn außer „yes, baby!“ hab ich derzeit nicht viel zu bieten außer Begeisterung.

Alan Mikhail: God’s Shadow. Eine (englischsprachige) Biographie über Sultan Selim I. (dem Grimmen), der von 1512 bis 1520 über das Osmanische Reich herrschte (und es um Jerusalem und große Teile der arabischen Halbinsel sowie Ägyptens erweiterte). Ein faszinierender Blick in einen Teil der Geschichte, der bei uns wegen Reconquista, Kolumbus und Reformation meist unter den Tisch fällt. Obwohl sich Teile dieser Ereignisse durchaus bedingen.

Janina Ramirez: Femina. Mehr Geschichtliches, in diesem Fall ein Blick auf mittelalterliche Frauen-Biographien, von frühen angelsächsischen Königinnen über Hildegard von Bingen bis zu Königin Jadwiga von Polen und Litauen. Spannend und leicht lesbar erzählt. Als Nerd hätte ich mir noch etwas mehr inhaltliche Tiefe gewünscht.

Karl-Heinz Göttert: Die Sprachreiniger. Es gibt einen Grund, warum die Fahrkarte das Billet ersetzte, nämlich eben die namengebenden „Sprachreiniger“, die seit den 1870ern das Deutsche von „welschen“ Einflüssen zu befreien gedachten – im Echo auf Alice Hasters: Die Deutsche Einheit im neuen Kaiserreich sollte sich auch in der Sprache spiegeln, aber so richtig einig ist eins sich hierzulande ja irgendwie trotzdem nie, trotz Sprache … Ein Blick in die Vorgängerorganisation des Vereins Deutsche Sprache, bei dem das Lachen zu häufig im Halse stecken bleibt.

Florence Brokowski-Shekete: Raus aus den Schubladen! Meine Gespräche mit Schwarzen Deutschen. Die Autorin portraitiert Schwarze Menschen in Deutschland, die sich beruflich an Orten befinden, wo sie das rassistische Stereotyp nicht vermutet. Bei einer äußerst interessanten Lesung gekauft, liest sich dieses Buch mit Interviews flüssig, auch wenn einiges davon zu kauen gibt.

Mithu Sanyal: Antichristie. Am besten wohl als magischer Realismus beschriebener Roman über eine Serienautorin, die eine Reise nach London übernimmt, um mit einem Team Agatha Christie zu dekolonialisieren. Gleichzeitig wacht die Hauptfigur als junger Einwanderer aus Bengalen auf und wird in einen Kreis von indischen Freiheitskämpfern gezogen, die vor dem Ersten Weltkrieg aus dem India House operieren. Oder: Gandhi war nicht der erste, der sich um die Unabhängigkeit Indiens kümmerte. Eine Geschichtsstunde ohne einfache Antworten.

Alfred Bellebaum (Hg.): Glück hat viele Gesichter. Aus Recherchegründen eine Aufsatzsammlung gelesen, die mit ein wenig Glück zu zitieren ist.

Sara Ahmed: Das Glücksversprechen. Eine feministische Kulturkritik, die recht gut zu Alice Hasters passt. Wenn Leute, die auf Missstände hinweisen, als Spaßverderber*innen gelten, dann läuft was schief … Die Autorin analysiert, wie Glück gedacht wird, an welchen Objekten die westliche Gesellschaft dieses Glück festmacht, und fragt sich, was passiert, wenn der einen Glück der anderen Unglück ist.

Cornelia Fleck: Queerfulness. Zum Abschluss ein positiver Rausschmeißer über das „Glück einer solidarischen Protestkultur“, passend zu Sara Ahmed und irgendwie auch zu Alice Hasters. Identität ist ja irgendwie ganz nice, aber nichts, wo wir stehen bleiben sollten (denn Identität ist sowieso immer in Aushandlung und damit fließend). Kurz und motivierend.

Aber … Nazis? Ein kritischer Blick auf ein Kompendium

Heidentum zum Zweiten. (Für Teil 1 hier klicken.)

Sobald du irgendwie erzählst, dass du „germanisches Heidentum“, Asatru oder wie auch immer praktizierst, landest du schnell in der rechten Ecke. Gleichermaßen wittern Rechte Sympathie für ihre Anliegen, wenn eins einen Thorshammer als Schmuckstück trägt.

Woher kommt das und was machen die ganzen Heidnischen, die sich nicht als rechts verstehen?

(Der Blogpost ist lang. Wie so häufig kann ich es mit den Rechtspopulisten und ihren Soundbytes nicht aufnehmen. Mit Bullshit über Geflüchtete Ärger, Hass und Neid zu provozieren, ist halt wesentlich einfacher, als fundiert zu argumentieren.)

Weiterlesen: Aber … Nazis? Ein kritischer Blick auf ein Kompendium
Ist bei Distanzierungen nach Rechts immer mit dabei: Loki (hier aus einem isländischen Manuskript, 18. Jahrhundert).

Germanenbild aufräumen – ein hehres Ziel

Um bezüglich neue Heiden und Rechtslastigkeit ein bisschen klüger zu werden – außerdem musste ich ja wissen, was Jasna in Lokis Fesseln so gelesen hatte – stöberte ich zwischen 2018 und 2020 bei riesenheim.net und beim Nornirs Aett, und zuletzt legte ich mir neben einer E-Version von Andreas Mangs Aufgeklärtes Heidentum noch Asatru – Die Rückkehr der Götter zu (derzeit nur antiquarisch erhältlich). Ursprünglich für die US-amerikanische heidnische Organisation „The Troth“ erstellt, wurde es für die deutsche Übersetzung von Mitgliedern des deutschen Eldaring e.V. überarbeitet und ergänzt.

Es bezieht laut Klappentext „klare Position gegenüber jenen, die das Bild der Germanen (…) auf völkische Muster zurückführen (…) wollen“.

Schon beim ersten Lesen des ersten Drittels – ein Schweinsgalopp durch die Religionsgeschichte Deutschlands, Großbritanniens und Skandinaviens von der Steinzeit bis zur „Wiedergeburt“ des Heidentums – roch einiges diesbezüglich eher nach Schwurbelei statt nach Aufräumen. Allerdings hätte ich meinen Finger nicht genau darauf legen können, was mich so störte.

Erst, nachdem mich ein Blogpost von Thursa zu einer beeindruckend umfangreichen Analyse von Stefanie von Schnurbein schickte, begriff ich, was da schieflief. Von Schnurbeins Arbeit zeigt auf, wie sich klassisches völkisches und nationalistisches Denken entwickelte, wie die Neuen Rechten es zum etwas gesitteter klingenden Ethnopluralismus machten, und dass weder Gesamtgesellschaft noch Asatru/Alte Sitte/Neuheidentum vor derartigen Denkweisen gefeit sind.

Von da aus kletterte ich weiter zum Rabenclan und dem Ariosophieprojekt, wo hauptsächlich Hans Schuhmacher die völkische Denke in der Neuzeit und besonders im Heidentum untersuchte.

Und wenn eins dann „Asatru“ von vorn liest, fallen einem ein paar Sachen auf.

Kapitelweise Zerlegung – was bleibt vom Ziel übrig?

Im ersten Kapitel geht es um die Steinzeit. „Am wichtigsten ist vielleich, dass die genetischen Wurzeln der meisten Europäer sich bis in die Steinzeit zurückverfolgen lassen.“ (S.27) Das Buch verbindet das mit der Ahnenverehrung, die im Asatru einen hohen Stellenwert hat.

Es hinterlässt aber ein „Geschmäckle“, wie wir Süddeutschen sagen. Die Affirmation, dass deine Vorfahren hier immer schon gelebt haben und dass das Land das angestammte Geburtsrecht sei (vulgo „Blut und Boden“), haben wir ja schon anderswo gehört. Dass das mit der Ahnenverehrung dann im hinteren Teil des Buchs eher kurz angerissen wird? Honi soit qui mal y pense.

Fünfzehn Buchseiten lang beschreibt „Asatru“ die „Indoeuropäer“ (S. 29 ff.). Wer waren die? Gute Frage.

Aufgrund von Ähnlichkeiten zahlreicher Sprachen scheint es wahrscheinlich, dass es eine Kultur gab, die deren gemeinsame Urform sprach. Diese ur-indoeuropäische Sprache verbreitete sich dann (wie, ist nicht mehr nachzuvollziehen) und spaltete sich in verschiedene Sprachfamilien auf, die aber wieder untereinander Einfluss nahmen. Die germanische Sprachfamilie ist wohl ein recht junger Zweig dieses Baums und keine dreitausend Jahre alt.

Nun ist es zwar ganz unterhaltsam, von verschiedenen Wortformen auf deren Urform zu spekulieren und von da aus auf die Entstehungskultur und gar auf die religiösen Vorstellungen und die Opferkultur und Riten. Wir haben dazu aber keine Funde. Es gibt die These, dass die Kurgan-Kultur der vorderasiatischen Steppe eine indoeuropäische Ursprache nutzte, gesichert kann das jedoch niemals sein, denn die Menschen damals hatten keine Schrift. Demnach erscheint es etwas müßig, so viel Text auf eine Spekulation zu verwenden. Das alles dient dazu zu beweisen, dass die „Wurzeln unseres Glaubens sehr weit und tief in die Vergangenheit“ reichen (S. 44).

Abgesehen davon, dass ich nicht wegen des Glaubens da bin, und dass Mythen selten aus der leeren Luft entstehen, sondern Geschichten über Gottheiten sind, die historischen Einflüssen unterliegen … wieder ein Geschmäckle. Außerdem: Wenn ich als neue Heidin nicht den Hintern in der Hose habe zuzugeben, dass ich mir da aus historischen Quellen was zusammenstückle, dann sollte ich mir das mit den nordischen Gottheiten noch mal überlegen. (Vergleiche: Heidnische Tugenden: Mut.)

Die real existente Bronzezeit mitsamt ihren großartigen Funden (wie die Himmelsscheibe von Nebra) hat dann nur fünf Seiten Platz. Und auch die erste Epoche, wo es wenigstens Fremdberichte gibt, die tatsächlich von „Germani“ sprechen, nämlich die Eisenzeit samt der Römer, die von den Sueben bis zu den Goten mit allerlei germanischsprachigen Stämmen zu kämpfen hatten, erhält gerade mal elf Seiten. Also weniger als die sprachlichen Spekulationen.

Klar, Tacitus war tendenziös und wollte die dekadenten Römer*innen maßregeln. Aber so ein paar erwiesene Dinge – Sakralkönigtum, mythische Stammesvorfahren, wobei die Verwandtschaft wohl sozial statt genetisch gedacht wurde, Thingversammlungen, Frauen als in der Zukunftsdeutung Befähigtere – wären im Detail schon interessanter gewesen als spekulative Frühlingsrituale von vor 8000 Jahren. Auch interessanter als die immer wieder erwähnten Männerbünde, deren Existenz laut Stefanie von Schnurbein keinesfalls so sicher ist wie behauptet – und die in der deutschen Geschichtsschreibung seit 1900 immer wieder dazu herangezogen wurden, um männliche Herrschaftseliten zu legitimieren.

Sprache, Kultur und die Völkerwanderungszeit

Auch aus der Völkerwanderungs- und Vendelzeit hätten wir mehr Fund- und Schriftzeugnisse als zu „den Indoeuropäern“, aber auch die bekommt weniger Platz eingeräumt. Und hier finden wir gleich auf der ersten Seite recht entlarvende Zitate.

„Innerhalb dieses Zeitraums siedelten sich germanische Völker in ganz Europa und sogar Nordafrika an und übernahmen (…) große Gebiete des römischen Reiches. Bei diesem Prozess verloren sie allerdings so manches an eigenem kulturellen Erbe, was dazu führt, dass die Nachfahren der Franken und Burgunder heute französisch (…) sprechen. Nur die Angelsachsen und die Stämme, die in Germanien und Skandinavien blieben, konnten ihr kulturelles Erbe bewahren.“ (S. 65)

Abgesehen davon, dass die Stämme sich damals wohl kaum als „Volk“ begriffen, enthält „verloren/bewahren“ eine Wertung, die ich in diesem Zusammenhang kritisch finde. Wir können hier davon ausgehen, dass der Grund für den Wandel und Austausch keinem gezielten Imperialismus entsprang, der eine eroberte Kultur mit allen Mitteln zu assimilieren trachtete. Tatsächlich nahmen die Zuwanderer ja die Sprachfamilie der Alteingesessenen an – offenbar erschien den Menschen das damals praktisch und keineswegs als Verlust?

Gleichzeitig wird hier Sprache mit Kultur gleichgesetzt, was ebenfalls kritisch ist. Nicht alle Menschen mit der gleichen Sprache haben die gleiche Kultur, innerhalb einer Kultur können verschiedene Sprachen unterschiedlicher Sprachfamilien miteinander friedlich leben.

Jedenfalls ist hiermit der völkische Mehrklang komplett: Landschaft – Genetik – Sprache – Kultur – Religion. Alles „natürlich“ entstanden, weshalb Menschen mit einer gewissen Genetik in einer gewissen Landschaft eine gewisse Kultur, Sprache und Religion am besten steht.

Kein Wunder muss der Autor die Züge der Angeln und Sachsen ins römisch-keltische Britannien und deren „Auffindung“ von Gottheiten wie Thonar und Wodan in der dortigen Landschaft als Beispiel hernehmen, das heutigen Heidnischen in den USA und Australien als Beispiel dienen kann.

Dass die beiden Länder Englisch als Amtssprache haben, hat damit wohl nicht unwesentlich zu tun. Auf diese Weise können sich weiße Menschen auf anderen Kontinenten getrost als Nachfahren der indoeuropäischen Germanen verstehen und sich daher auf die ihnen „von Natur aus“ zustehende Religion „ihrer Vorfahren“ etwas einbilden.

Auch die Wikinger, aus deren mythologischen Erzählungen das meiste Material stammen dürfte, das wir heute in Form der Edden und der Sagas kennen, werden kürzer abgehandelt als die Indoeuropäer. Hier reißt der Autor allerdings wenigstens an, wie sehr die Annahme des Christentums durch Herrschende oft machtpolitischem Kalkül diente.

Und die Neuzeit?

Eine „Wiedergeburt“ zeichnet das entsprechend benamste Kapitel dann seit dem 14. Jahrhundert nach. Sicher dürfen wir uns heute freuen, mit welcher Emsigkeit seitdem alte Schriften gesammelt, Märchen aufgezeichnet und Volksbräuche dokumentiert wurden.

Allerdings entsprang dieser Eifer oft politischen Motiven – oder wurde aus politischen Motiven gefördert. Zunächst diente die Besinnung auf das Eigene/die Nation dazu, sich nach der Reformation vom Einfluss Roms und der katholischen Kirche freizumachen. Auch eine Rolle dürfte gespielt haben, dass man eine eigene glorreiche Vergangenheit suchte im Vergleich zu jenen Ländern, die sich für ihre Geistesgröße auf die römische und griechische Antike berufen konnten. Und die das Christentum römisch-germanischer Prägung ja zunächst und wahrscheinlich vorsätzlich seinem Pöbel vorenthalten hatte, indem es die Schriftkunde dem Klerus und der Oberschicht vorbehielt. Im Nachhinein für die geneigten postmodernen Heid*innen ein saublöder Schachzug, damals aber cleveres Machtkalkül.

Als Nächstes reißt das Buch die Romantik an – dabei das unterschlagend, was diese „Betonung der individuellen Identität und der spirituellen Entwicklung des Einzelnen, die der Leitfunktion von Seele und Gefühl vor der des Intellekts, Begeisterung für die unverfälschte Natur“ (S. 88) mit ausgelöst hatte. Nämlich ein Widerstreben gegen die naturwissenschaftliche Denkweise. Zur naturwissenschaftlichen Empirie passten weder Götter, Alben noch Seelen. Sodass die Welt fortan ein großes Uhrwerk wurde, und menschliche Körper waren mechanische Apparate, in deren Kopf der menschliche Geist saß und sie steuerte.

Neben den individuellen Sehnsüchten enthielt die Romantik den Glauben „an eine verklärte Vergangenheit, die angeblich von ritterlichen Werten und einer ‚Volksseele‘ als natürlicher Quelle höchsten künstlerischen Ausdrucks geprägt gewesen sei“ (ebd.).

Nebenbei war Napoleon auf Eroberungsfeldzug aus, und die „nationale Unabhängigkeit“ (lies: die Interessen des alteingesessenen Adels) musste gegen den fremden Usurpator (mit seinen Gesetzesreformen, die er den eroberten Gebieten angedeihen ließ) verteidigt werden, egal wie en vogue bis dato das Französische in der Oberschicht gewesen war.

Dazu mussten eine Nation und das dazugehörige „Volk“ für die „Volksseele“ aber erst einmal erfunden werden. Und damit waren die Germanen als Ur-Deutsche mal wieder in. Zudem suchten vor allem die Geisteswissenschaften wie die Linguistik, diese Idee der Volksseele zu beweisen und stellten sich (sicher oft unbewusst) in den Dienst der politischen Ziels eines geeinten Deutschlands. (Statt der zahlreichen Teilstaaten, die es damals gab.)

Ohne diese Erfindung des „deutschen Volks“ könnte es die „Völkischen“ aber gar nicht geben. (Vgl. u. a. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter.)

Wie sich diese Konstruktion von Völkern (im Gegensatz zu Staaten) und der „Volksseele“ nicht nur im wilhelminischen Deutschland zu Nationalismus auswuchs und wie die europäische Naturwissenschaft sich in einer Begeisterung für Darwins Evolutionstheorie zu Rassentheorien als Kolonial-Apologetik verstieg und den seit Jahrhunderten bestehenden Antijudaismus fröhlich als Antisemitismus mit integrierte, steht nicht im Buch. Wir bekommen dann vor allem die esoterischen Nazi-Inspirationsgeber in Form der Ariosophen und deren allzu reale Auswüchse serviert. (Witzigerweise hielt Hitler selbst jegliche Rekonstruktion des Heidentums offenbar für Spinnerei.)

Gegen Rassismus, oder auch nicht …

Danach fabuliert das Buch anhand eines einzigen konkreten (und eher zweifelhaften) Beispiels von „Unterdrückung“ (S. 102).

Völkische und andere politsch rechtslastige Menschen halten sich übrigens auch gern mal für unterdrückt. So etwas gehört zur Selbstinszenierung, denn Unterdrückte halten eher auf Gedeih und Verderb zusammen und können sich dazu noch für besonders mutig halten, wenn sie „das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen“ für sich reklamieren und jeglicher sachlicher Kritik mit Geschrei von „Zensur!“ begegnen.

Eher wertungsfrei berichtet dann die „Entstehung von Asatru“ von diversen Gruppen, die entstanden – wie viele davon ein „ethnisches“/„folkish“ Asatru vertreten, muss zwischen den Zeilen oder am besten auf der entsprechenden Homepage der besagten Truppen nachgelesen werden.

Wie sich das anhört, auch wenn „ethnisch“ nirgendwo steht: „Das traditionelle germanische Heidentum ist die indigene‭ (‬eingeborene‭) ‬Naturreligion der germanischen Völker Nord-‭ ‬und Mitteleuropas,‭ ‬die sich aus den religiösen Erfahrungen hier heimischer Menschen in Einklang mit der Natur ihres Landes organisch entwickelt hat.‭ ‬Als Naturreligion beruht es auf der Heiligkeit der Natur,‭ ‬als indigene Religion auf der Verwandtschaft zwischen der heimischen Natur,‭ ‬den Gottheiten,‭ ‬die in ihr sind,‭ ‬und den Menschen,‭ ‬die ihr angehören.‭ ‬Da die Natur und somit auch die Götter in ihr vielfältig und überall anders sind,‭ ‬lehnen wir Ansprüche auf universale Gültigkeit ab und vertreten das gleiche Recht aller Menschen auf ihre eigene Religion.“ (Einstmals auf den Einstieggseiten des VfGH zu finden, mittlerweile in ein PDF verbannt.)

Ah ja. Und wer entscheidet noch mal, was die „eigene“ Religion ist? Nicht die Leute, die sie ausüben wollen, sondern wo die Leute herkommen, also Gene und Landschaft, die als das Gleiche gedacht werden. Aber offen rassistisch oder völkisch ist das nun nicht mehr, auch wenn „Volk“ drin vorkommt und die germanischen Stämme keine Völker waren. Somit ist es ethnopluralistisch. Alle Sandkästen sind gleich gut, aber jedes Kind möchte bitte in seinem eigenen Sandkasten bleiben. Austausch von Sand oder Kindern ist gleichermaßen abzulehnen.

Was es nicht unbedingt besser als offen geäußerter Rassismus macht. Immerhin habe ich dann als Kind das Recht, andere Kinder aus meinem Sandkasten rauszuwerfen, wenn sie nicht seit Generationen in diesem Sandkasten verwurzelt sind. Diese Denke ist nicht besonders originell, wenn aus den Massenmedien der Ruf nach einer „deutschen Leitkultur“ herbeihallt, Pegida geschichtsvergessen das „christlich-jüdische Abendland“ bemüht und eine Kollegin es irgendwie seltsam findet, dass sie trotz ihrer Eltern (mit türkischen Pässen) deutsche Staatsangehörige ist, weil sie eben hier geboren wurde. (Fragt sich, ob sie das auch denken würde, wenn ihr „die Deutschen“ nicht ständig das Gefühl geben würden, eine „Ausländerin“ zu sein. Eine Denke, die dem römischen Reich wie auch den germanischen Stämmen wohl völlig abgegangen wäre.)

„Die Sippentreue unsererseits gilt nicht nur den Göttern,‭ ‬sondern allen Wesen,‭ ‬die durch gemeinsame Herkunft aus unserem Land mit uns verwandt sind.‭ ‬Nach unserer Überzeugung dürfen wir unser Land und seine Pflanzen und Tiere ebenso wenig ausbeuten und sinnlos schädigen wie seine Menschen.‭“ (Quelle: https://web.archive.org/web/20211203135019/https://www.vfgh.de/heidentum/grundlagen/)

Und was ist mit anderen Ländern und deren Pflanzen, Tieren und Menschen? Also doch nicht so gleichwertig wie behauptet.

Wenn Alte und Neue Rechte bei solchen Verlautbarungen Morgenluft wittern, muss sich eins nicht drüber wundern.

Aber sind derlei Einstellungen extrem genug, um der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“ zuwiderzulaufen? Darunter fallen „Rechts- und Linksextremismus, homophobe und rassistische Einstellungen, Sexismus, der Aufruf zur Gewalt sowie die okkulten Weltanschauungen der Theosophie bzw. der Ariosophie“. So was will der Eldaring e. V. (und damit die Erstellenden der Übersetzung des hier zerlegten Buchs) nämlich nicht vertreten, obwohl er sich ansonsten „politisch neutral“ verhält. (Quelle: https://eldaring.de/verein/selbstverstaendnis/)

Kann sich eine Religion politisch neutral verhalten?

„Die germanische Religion war Sache der politischen Gemeinschaft und stand mit dem rechtlichen, staatlichen und sozialen Leben in engstem Zusammenhang …“, so „Asatru“, das Buch (S. 129).

Also entgegen der Behauptung auf der Webseite: Religion regelt das Zusammenleben einer Gruppe. Religion kann sich nie völlig politisch neutral verhalten – sonst wäre eine Partei wie die CDU gar nicht möglich, die Kirchen würden niemals zu sozialen und politischen Fragen Meinungen raushauen und ich hätte niemals eine evangelikale Abtreibungsgegnerin aus der Apotheke rausekeln müssen.

Und über diesem Statement der politischen Eingebundenheit von Religion verliert sich „Asatru“ dann weiterhin in dem Versuch, mit der Berufung auf die Religionswissenschaftler Sundermeier und Assmann, Religionen aufzuteilen. Es gebe primäre und sekundäre Religionen. „Ziel der primären Religion ist die Beheimatung des Menschen in der Welt und seine Integration in die Ordnung des Irdischen. Die sekundäre Religion hingegen zählt auf Weltüberwindung, auf Erlösung des Menschen von den Zwängen dieser Welt …“ Und dass die sekundäre Religion, die „immer eine Buchreligion“ sei, irgendwie schlechter ist, versteht sich im Subtext natürlich von selbst.(S. 130).

Religiös wenig aufgeschlossene Menschen (das Gros der Bevölkerung) verstehen unter „Buchreligion“ das Judentum, das Christentum und den Islam, eventuell noch den Buddhismus. (Wer hätte an den Sikhismus gedacht? Bitte melden.)

Das Judentum ist aber nach der Definition von Sundermeier/Assmann eine primäre Religion. So etwas sollte eins dem geneigten Publikum erklären, sonst hört die mittlerweile zynische Lesende den Antisemitismus trapsen.

Desgleichen wirkt die nachfolgende Gegenüberstellung von Erlösungs- und Versöhnungsreligion nach Sundermeier etwas lächerlich, zumindest für Menschen, die das Vaterunser mal auswendig lernen mussten. („Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, nicht?)

Im Schlussabsatz wird beklagt, dass in Deutschland die „universalistischen“ Gruppen und die „folkish“ Gruppen aus politischen Gründen nicht zusammenarbeiten könnten. Die „Darstellung in den Medien“ würde von dieser Abgrenzung abhängen und „das Überleben“ für deutsche Asatru-Gesellschaften wäre sonst nicht möglich (S. 131). Dieses Lamento ist dann so konsequent wie apolitisch und trotz der 130 Seiten langen Geschichtsstunde ein wenig geschichtsvergessen.

Und wie anderswo schon bewiesen wurde: Die Rechten brauchen keine Mehrheiten, die brauchen nur Leute, die sie tolerieren und sie ihre Ideologie der Ungleichwertigkeit ungestört verbreiten lassen.

Also … wenn das alles so ideologisch besetzt ist, wieso ein langer Exkurs statt einfacher Urteile?

Ich will keineswegs behaupten, alle Personen, die an der Erstellung des Textes von „Asatru“ mitgewirkt haben, seien rassistisch, völkisch oder verträten den Ethnopluralismus. Oder dass sie sich sonst wie für etwas Besseres hielten, weil sie zu Asatru gefunden hätten.

Sonst hätte ich ja einfach „Rassismus!“ krähen können und es dabei belassen. Passiert weiß Frigg oft genug.

Wie schon Stefanie von Schnurbein meinte: Derlei Gedankengut ist ob seiner Allgegenwart perfider und invasiver als die besten Absichten.

Und Hans Schuhmacher konstatiert: „Nicht etwa Naturreligiöse der 80er Jahre schufen eine nationalistisch-rassistische, verklärte Vergangenheit. Sie fanden sie bereits vor und hielten sie für die historische Wahrheit – da man ihnen ja auch von nahezu allen Seiten die Richtigkeit dieser Annahme bestätigte. (…) Die Öffentlichkeit, die dann die Alarmglocken läutete, aber zumeist beispielsweise am deutschen Staatsbürgerrecht nicht das Geringste auszusetzen fand, prügelte vehement auf ihren eigenen Schatten ein.“ (Quelle: http://www.rabenclan.de/index.php?n=Magazin.HansSchuhmacherNationalismus03)

Es gilt demnach, aufzupassen und die eigenen Meinungen konsequent zu hinterfragen.

Jahresabschluss / Gelesen 2023

Dafür, dass ich hier wenig gepostet habe, bin ich ganz gut zu Veranstaltungen rumgekommen in 2023. Während es kein Schreibjahr in dem Sinne war, schaue ich doch recht zufrieden auf die politischen Aktivitäten zurück und all die Menschen, die ich dadurch kennenlernen durfte.

Und ich weiß, dass meine links/liberal/grün/woken Bubbles mit einem zuversichtlichen und einem besorgten Auge nach vorn blicken.

Privat war auch in bisschen Nerverei.

Und ich selbst hatte mit insgesamt fünf Infekten, davon einmal Corona und einmal wahrscheinlich Grippe, zu kämpfen, was die Promo für meine einzige Neuerscheinung, nämlich das zweite Beweisstück, sehr beeinträchtigte. Zumal das mitherausgebende Tenna zu dem Punkt ebenfalls aus anderen Gründen indisponiert war. (Da weiter gute Besserung den restlichen Zipperlein, mein Liebes.)

Meine Frau Mama allerdings hatte es geschafft, sich dieses Jahr einen Posteriorinfarkt (einen Schlaganfall) zuzulegen, was ihre Sehkraft zunächst massiv beeinträchtigte. Sie durfte einige Monate nicht Auto fahren, weshalb ich gelegentlich Taxi spielte. Ich weiß jetzt, dass ich den zu spät erkannten Risikofaktor geerbt habe. So die Gesundheitsversorgung in den nächsten Jahrzehnten noch einigermaßen funktiniert, werde ich wohl relativ früh relativ hohe Dosen Cholesterinsenker brauchen.

Nu ja. Aber immerhin sind sie, bis auf eine zu beerdigende Katze (nicht meine), alle noch da.

Damit wünsche ich allen einen guten Jahresanfang 2024.

Und nun zur klassischen Leseliste, die dieses Jahr eher kurz ausfiel, da ich noch mehr Fanfiction gesuchtet habe als üblich. Was mit dem besorgten Auge von oben zu tun haben dürfte. (Die besten Transformers-Fanfics sind immerhin diejenigen, in denen ein Krieg auf überzeugende Art endet oder abgewendet wird.)

Christian von Aster: Bromley. Ein metafiktionaler, äußerst amüsanter Agentenroman. Der Autor eines Thrillers wird entführt, und es liegt an der Hauptfigur Bromley, seinen Schöpfer zu retten. Ein aberwitziges Abenteuer zwischen den Zeilen und unter Fußnotenluken entspinnt sich.

Leigh Bardugo: Das Gold der Krähen. Dies ist die Fortsetzung von Das Lied der Krähen. Wo der erste Band vordergründig ein klassischer Heist war, haben wir es hier eher mit einem Fantasy-A-Team zu tun. Diesmal gilt es weniger, etwas zu stehlen, als die komplette Zunft der Grisha in Ketterdam und anderswo zu retten.

Duke Meyer: Küss die Hand, Gnä‘ Sau. Duke Meyer wirft einen ganz persönlichen Blick auf nordische und altgermanische Gottheiten. Seitdem schaue ich Sigyn anders an und Lokis Fesseln wäre wahrscheinlich ein bisschen anders verlaufen, wenn ich das Buch vorher gelesen hätte (aber anno 2019 war es noch nicht erhältlich).

Heike Schrapper: Der Prinz und sein Monster. Ein Märchen vom Loswerden. Liebevoll illustriertes Märchen von einem Prinzen, der plötzlich ein Monster auf seinem Rücken sitzen hat. Ob es sich hier um eine Parabel über Depressionen oder vielleicht chronische Schmerzerkrankungen oder etwas anderes handelt, mögen die geneigten Lesenden selbst entscheiden.

Holger Much und Florentine Joop: Und wenn wir nicht gestorben sind … (Bruderherz). Ein Mix aus Briefwechsel und gemeinsam verfasstem Märchen mit Illustrationen. Das Märchen ist das, was ich vermute, das Märchen ursprünglich mal waren: Gruselgeschichten für Erwachsene, in diesem Fall mit philosophischem Extra. Die umrahmenden Briefe geben dem Ganzen eine persönliche Note, mal nachdenklich, mal amüsant.

MaroHeft #8, Anna Lühmann und Anna Geselle: Know Your Enemies. Neue alte Rechte Denker. Die Autorin knöpft sich Vordenker der rechten Szene vor, während sich die Illustratorin mit unserem rechten Erbe aus Kolonial- und Nazizeit beschäftigt. Empfehlenswerter Einstieg ins Thema.

Hannah McCann: Queer Theory Now. Der Text liefert (auf Englisch) einen Schweinsgalopp durch die Queer Theory, von ihren Wurzeln in der feministischen, antirassistischen und Schwulen- und Lesben-Bewegungen zu dem, was heute so veröffentlicht wird. Dabei zeigt sie angenehm entspannt Zusammenhänge auf und spart auch die Fallstricke mancher Denkweisen nicht aus.

Germaine Paulus: Und die Moral. Ein Thriller. Der erste Band, Pfuhl, um den Ermittler Gerd Wegmann ist ein absichtlicher Schundroman. Und die Moral ist ein bisschen ernsthafter in seinem Blick auf die sexuellen Befindlichkeiten und dazugehörigen moralischen Urteile der Bundesdeutschen, und dazu noch sauspannend.

Benno Gammerl: Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaisserreich bis heute. Auch hier ein Schweinsgalopp, diesmal durch die deutsche Geschichte. Benno Gammerl zeigt langfristige Entwicklungen, Erfolge und Niederlagen der queeren Bewegung in Deutschland auf, hauptsächlich allerdings die der Schwulen- und Lesben-Community, da diese immer stärker im Fokus der Rechtssprechung standen. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine vollständige Betrachtung, aber es gibt auf jeden Fall was dazuzulernen – vor allem in Sachen: „Wie alt ist diese Rhetorik eigentlich?“

Dorothe Reimann: Mannaz – Die Sippe. Roman. Richtige „Fantasy“ ist die Geschichte noch nicht, ich würde es eher in den magischen Realismus oder gegebenenfalls nach Mystery einsortieren. — Eine alleinstehende Kunstschmiedin und ihre lernbehinderte Schwester müssen aus ihrer alten Bude raus und gründen mit ein paar anderen Gleichgesinnten eine Kommune. Dass es dabei ab und zu menschlich hakt, ist klar. Aber die frisch gegründete „Mannaz-Sippe“ scheint auch einen übersinnlichen Gegenspieler zu haben … Wie immer spannend, auch wenn Dorothe Reimanns reduzierter Stil für manche Fantasy-Fans wahrscheinlich etwas gewöhnungsbedürftig ist.

Christian von Aster: Harem der verschleierten Geschichten. Orientalisches oder orientalistisches Märchen? Eigentlich will ich ja alles vom Herrn von Aster gut finden. Zu meinem Zwiespalt gibt es einen eigenen Blogeintrag.

Tommy Krappweis: Mara und der Feuerbringer (alle drei Bände). All-age-Fantasy. Teenie Mara Lorbeer begegnet einem sprechenden Zweig: Sie sei eine Seherin und nur sie könne verhindern, dass Loki sich von seinen Fesseln losreißt und den Weltenbrand, Ragnarök, auslöst. Ein sehr amüsantes, schön recherchiertes und saumäßig spannendes Abenteuer.

Lisa Jaspers, Naomi Ryland und Silvie Horch (Hrsg.): Unlearn Patriarchy. Eine Aufsatzsammlung. Machthierarchien begegnen uns offensichtlich in Sprache, in Rassismen, in Behindertenfeindlichkeit, im Bildungssystem, beim Geld. Aber auch beim Sex und in der Familie, dem angeblich zuverlässigen Rückzugsort. Und wie kann ich Macht verlernen? Die einzelnen Texte werfen je einen Blick auf ein Thema, sind sich dabei nicht immer einig, geben immer Denkanstöße und brauchen auf jeden Fall einen Re-Read, sobald die erste Person damit durch ist, der ich den Band ausgeliehen habe.

Fabian Sommavilla: 55 kuriose Grenzen und 5 bescheuerte Nachbarn. Der Autor wirft einen Blick auf Grenzen und deren Historizität. Grenzen und ihre Verläufe sind das Produkt von Kriegen und Verträgen und keinesfalls eben „schon immer so gewesen“. Ein Sachbuch für Menschen, die Geographie mit der zugehörigen Historie mögen.

Lektüre mit Fragezeichen

Ich habe 2023 zu viel Fanfiction gelesen (aber immerhin auch welche veröffentlicht). Eins der Bücher, die ich zur Hand nahm, war Christian von Asters „Harem der verschleierten Geschichten“. Grober Inhalt: Ein Dichter wird von einem offenbar begüterten, aber namenlosen Fremden beautragt, Geschichten aus dem Harem des Sultans zu erzählen. Nach einigen Wirrungen gelingt es dem Dichter, den verbotenen Ort zu erspähen. Er lauscht den darin lebenden Damen und schreibt von sechs die Geschichte auf (oder zumindest, was wer glaubt, dass ihre Geschichte ist).

Ab jetzt Spoiler, wer also lieber selbst liest, klicke „zurück“.

CN: Alles, was ein „Harem“ so impliziert.

Wie von Herrn von Aster gewohnt ist die Prosa so gedrechselt wie sinnenfroh, und die farbigen Illustrationen dazu können sich ebenfalls gut sehen lassen.

Am Ende stellt sich heraus, dass der Sultan selbst den Auftrag gab, da er in seiner Position nicht in der Lage ist, mit den Frauen in seinem Harem auf Augenhöhe zu sprechen und daher auch nicht sicher sein kann, dass sie ihm ihre ehrliche Meinung sagen bzw. ihre wahre Lebensgeschichte erzählen. (Wobei wie gesagt offen bleibt, ob der Dichter sich nicht einfach was zusammendichtet.)

So weit ist die Lehre daraus nachvollziehbar. Machtgefälle laden nicht gerade zu offener Kommunikation ein. Trotzdem lässt mich der Text etwas kopfkratzend zurück. Die Atmosphäre eines „orientalischen Märchens“ ist mir grade ein bisschen zu Karl-May-artig und zu wenig märchenhaft erzählt, um sie nicht als ernst gemeint (und damit für meinen Geschmack wacklig auf dem Grat des Orientalismus) zu lesen. Zumal „Harem“ — tja. In der Story sitzen die meisten beschriebenen Damen da freiwillig drin. Wie das im 19. Jahrhundert in echt war, ist schwer zu beurteilen, da die Geschichte ja nicht von den Insassinnen geschrieben wurde. Wir haben keine Ahnung, wer da freiwillig war, wer sich dreinschickte und wer lieber woanders gewesen wäre. Hort der Romantik oder Verklärung sexualisierter Gewalt? Beides vermutlich in wechselnden Anteilen. Derlei Ambivalenz fehlt mir bei dem Handlungsort ein wenig.

Angeblich ist das Buch auch ein poetisches Gleichnis über Tücken und Zauber der Schönheit. Bei der Sache stehe ich auf dem Schlauch, muss ich sagen. Könnte daran liegen, dass ich ace bin und auf menschliche „Schönheit“ wohl anders reagiere als das Zielpublikum. Verzaubern muss mich anderes.

Gelesen 2022

So. Wieder ein Jahr rum. Vom Blog aus gesehen nicht sehr bewegt, aber trotzdem hat es sich verhältnismäßig lang angefühlt: Ich hatte dann doch einen Haufen neue Sachen getan, was für Menschen über 40 offenbar eine Seltenheit darstellt.

Eins davon war, ein Essay zu schreiben. Damit ich ungefähr wusste, was „Essay & Illustration“ bedeutet, bekam ich vom Verlag die ersten sechs MaroHefte geschenkt. Die lesen sich am Stück innerhalb eines Tages weg, halten aber inhaltlich teils lang vor.

MaroHeft #1: Jörn Schulz und Marcus Gruber: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabällchen. Warum nachhaltiger Konsum das Klima nicht rettet. — Was draufsteht. Ohne Politik hilft nun mal auch kein persönlicher Flug- & Fleischverzicht.

MaroHeft #2: Oliwia Hälterlein und Aisha Franz: Das Jungfernhäutchen gibt es nicht. — Mein Biologiebuch, und sicher nicht nur meins, hat doch auf einigen Ebenen gelogen. Oder: Wie Sie mit Pseudowissenschaft Macht über Menschen ausüben.

MaroHeft #3: Felix Bork: Aus den Ärschen, aus dem Sinn. Eine Odyssee durch Körper, Klo, Kanalisation, Kläranlage und Wolken. — Auf eine unterhaltsame Art sehr lehhrreich.

MaroHeft #4: Peter Bierl und Katharina Kulenkampff: Die Legende von den Strippenziehern. Verschwörungsdenken im Zeitalter des Wassermanns. — Okay, ich habe gelegentlich Kundschaft, die unabhängig aller physikalischen Wahrheiten ihre Homöopathie und Biochemie auspendelt. Da wundert’s dich dann auch nicht, dass solche Leute glauben, Coronaviren wegtrommeln zu können. Mittlerweile hat es unsere hiesige wöchentliche Nazi-Demo dank Reichsbürgern zu weiteren unrühmlichen Schlagzeilen gebracht. Auch kein Wunder. Kreuzverweis an die Talk-Reihe „Ferngespräch“ von Tommy Krappweis und dem Hoaxilla-Podcast.

MaroHeft #5: Bettina Fellmann und Rebekka Weihofen: Zur Verteidigung der Traurigkeit. — Das sperrigste Heft dieser Auswahl: Viele sozialwissenschaftliche und philosophische Anspielungen, die über meinen Kopf hinweggingen, was angesichts des wichtigen Themas doch etwas traurig macht. Wie viel „Depressionen“ sind durch gesellschaftliche Zumutungen hergestellt? Brauchen wir Pillen, weil Trauer nicht verwertbar ist?

MaroHeft #6: Jahn/Schindler/Taleqani u. a. und Riikka Laakso: Talking ‚bout Your Generation: Wie die Welt den Bach runtergeht und dabei das Meer überläuft. — Kurze Beobachtungen zu Kapitalismus und Umweltschutz. Ich hätte, glaube ich, dazu lieber einen zusammenhängenden Text gehabt.

Audre Lorde: Sister Outsider. Essays. Audre Lorde machte sich über Rassismus in der feministischen Bewegung ihrer Zeit genauso Gedanken wie über Sexismus in antirassistischen Communities. Sie stellt sich Fragen darüber, welchen Nutzen Schweigen hat und warum Menschen innerhalb einer Bewegung oft ungerecht zueinander sind. Da alle Texte vor 1992 entstanden, hatte Audre Lorde trans Personen nicht auf dem Schirm. Dennoch könnten sich moderne Internetdebatten von ihrer Scharfsichtigkeit gern eine Scheibe abschneiden. An den unterliegenden, allgemein menschlichen Problemen hat sich nämlich nicht viel geändert. Zum Zweitlesen vorgemerkt.

Hanne Blank: Straight. The Surprisingly Short History of Heterosexuality. Zu Recherchezwecken ein zweites Mal gelesen und wieder ein paar neue Sachen entdeckt. Hanne Blank zeigt in ihrem kurzweilig erzählten Sachbuch auf, wie der Begriff „heterosexuell“ in die Welt kam, und wie sich die Konzeption von dem, was ein „normales Paar“ ist, seit dem 16. Jahrhundert geändert hat. Wobei mensch hinterher hoffentlich gelernt hat, dass „Normalität“ immer von der Zeit und der Gesellschaft abhängt, die sie definiert, und einem dauernden Wandel unterliegt.

Leigh Bardugo: Das Lied der Krähen. Fantasy-Roman. Ein reicher Kaufmann heuert eine Diebesbande an, um den Erfinder einer Wunderwaffe aus einem Hochsicherheitsgefängnis zu stehlen. Zauberei, alte Animositäten und Verrat innerhalb der Truppe machen das Abenteuer zu einem fast unkalkulierbaren Risiko. — Diese Geschichte eines etwas anderen Einbruchs spielt im gleichen Universum wie die letztjährig vorgestellten Grisha-Romane. Ein Technologielevel aus dem 19. Jahrhundert trifft auf Zauberei und Kulturen, die ihren Umgang damit nicht unterschiedlicher handhaben könnten. Die Figuren sind rund, die Geschichte hat mich jedoch nicht ganz so gefesselt wie die Trilogie um Alina. Spannend bleibt der Text trotzdem, und er wartet mit einem fiesen Cliffhanger zum zweiten Teil auf.

JJ Bola: Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist. In seinem kurzen, gut verständlichen Sachbuch zeigt der Autor auf, warum das Patriarchat auch für die meisten Männer Gift ist, und macht Vorschläge, wie aus „Männlichkeit“ „Männlichkeiten“ werden können. Große Teile der Analyse waren mir zwar bekannt, dennoch bot das Buch einige neue Einblicke, sodass es sich nicht nur für Einsteiger*innen ins Thema eignet.

Fabienne Siegmund: Das Mühlenreich (Teil1). Urban Fantasy um Sofia, eine Enddreißigerin, die nach einer Trennung ins Haus ihrer verstorbenen Großeltern zieht. Sie hat das dringende Gefühl, dort etwas suchen zu müssen. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass sie vergessen hat, dass die jüngste Nachbarstochter einst spurlos verschwand. Was hat das alles mit der Wiese hinter dem Mühlenbach zu tun, vor der sich die gesamte Nachbarschaft gruselt? Sofia überquert die Brücke und gerät auf der Suche nach den verlorenen Erinnerungen an Schmetterlingsfeen, Mäusekönige und vor allem die Spinnenfee, mit der sie als Kind einen folgenschweren Handel einging. — Das Buch verwebt geschickt märchenhafte Motive, ohne zuckersüß zu sein oder nur Bekanntes neu zu mixen. Neben einer ordentlichen Portion Grusel serviert Fabienne Siegmund Spannung und Figuren, die ihre Vorstellung eines Happy Ends regelmäßig in Frage stellen müssen.

Malte Thießen: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Corona-Pandemie. Sachtext, wie der Titel schon sagt, und eine mir fast zu kurz geratene, aber flüssig zu lesende wie sehr aufschlussreiche Analyse der deutschen Befindlichkeiten von Anfang 2020 bis Sommer 2021.

Germaine Paulus: Pfuhl. Ein Pulp-Roman. Der Untertitel ist eine klare Ansage, die die Autorin gnadenlos einhält. Drei Serienmörder, die sich gegenseitig beeinflussen, Drogen, Prostiuierte, Sex und ein Gerichtsmediziner zweifelhafter Moral … und in diesem Pfuhl ermittelt der kettenrauchende und dem Alkohol zugeneigte KHK Gerd Wegmann Anfang der Nullerjahre in einer anonym bleibenden Großstadt. — Wer keine Angst vor Blut und detailliert beschriebener Hirnmasse hat (und wie immer bei spektakulären Serienmorden die Glaubwürdigkeit vernachlässigt), findet hier einen flüssig geschriebenen, absoluten Pageturner.

Uschi Gassler: Ausmanövriert. Psychothriller. Benedict, ein junger Mann aus reichem Hause hat einen One-Night-Stand mit Arlena, einer jungen Frau, die nicht seinem Schönheitsideal entspricht. Nachdem eine seiner Ex-Freundinnen tot aufgefunden wird und er unter Mordverdacht gerät, drängt sich Arlena als einzige Unterstützung auf. — Der Roman macht im Subtext recht schnell klar, was vorgeht, sodass sich die Spannung weniger daraus zieht, wer es war, sondern wann der junge Mann merkt, welches Spiel gespielt wird, und wie er sich aus der Ecke befreit, in die er manövriert wurde. Wie so häufig bei Uschi Gassler ist der Text spannend bis zu letzten Kapitel. Aus Gründen, die zum einen mit dem Milieu wie auch den Beschreibungen der Frauenfiguren zu tun haben, zum anderen mit dem jeweils von den Autorinnen selbst gesetzten Anspruch an Tiefsinnigkeit, fand ich es einfacher, bei Germaine Paulus meinen Wunsch nach Gesellschaftskritik in Krimis abzulegen.

Laura Dümpelfeld: Lemmy Lokowitsch – Das Syrikon-Projekt. Phantastischer Roman, bzw. ein wilder, aber gut funktionierender Mix aus Noir-Detektivroman, Journalismus-Thriller und Völkerfantasy. Der titelgebende Herr Lokowitsch (wobei Heldentum und Sympathiewerte des Ich-Erzählers durchaus diskutabel sind) ist ein alkoholabhängiger, notorisch pleiter Journalist und braucht dringend eine neue Story. Nach einem Tipp seiner Schwägerin stöbert er einem Waffenhersteller hinterher und findet dabei einen Hinweis auf merkwürdige Experimente … — Die Autorin hat hier einen postkolonialen Pageturner geschaffen, der theoretisch auch ohne Fantasy-Elemente funktionieren würde. Diese sind aber eine nette und ausgeklügelte Dreingabe, und als Bonus gibt es weder eine Romanze noch müssen die weiblichen Figuren trotz Petticoats die Damsel in Distress sein.

Tommy Krappweis: Ghostsitter, Band 1 – Geister geerbt. Urbane Fantasy für Menschen ab 8. Ich wollte wissen, was ich dem Pseudoneffen geschenkt hatte, und siehe da: Ich durfte das Buch von ihm ausleihen. Der 14-jährige Tom erbt eine Geisterbahn. Eine mit echten Geistern, bzw. einem Geist, einem Zombie, einer Mumie, einem Vampir und einem Werwolf. Doch kaum tritt Tom das Erbe an, erscheint ein mysteriöser Mensch, der ihm diese Geisterbahn um jeden Preis abspenstig machen will. — Die Romanbearbeitung einer Hörspielreihe hätte ein paar mehr weibliche Sprechrollen vertragen können, aber Tommy Krappweis bringt diese Fast-nur-Männer-WG so sympathisch rüber, dass es einfach ist, ihm den Bechdel-Test-Fail zu verzeihen.

Carsten Steenbergen: Im Reich des toten Königs. Fantasy. Stand Mai 2022: Nicht beendet. War mir zum Zeitpunkt des Lesens irgendwie zu viel des Machismo seitens des Ich-Erzählers.

Tobias Hartmann: Im Dienste der Gerechtigkeit. Krimi-Soap. Die vier einfach gestrickten Fälle sind hier weniger Kaufgrund als die Tatsache, dass die beiden Hauptfiguren regelmäßig die vierte Wand durchbrechen und auch ansonsten sehr witzig sind. Menschen, die sich mit Pforzheimer Lokalpolitik auskennen, werden durch Anspielungen auf selbige noch auf einer zweiten Ebene unterhalten.

Tina Skupin: Valkyrie. Ruf des Schicksals und Valkyrie. Hels Armee. Band 2 und 3 der Reihe um die Walküre Frida, die sich mit neuen und alten Norsen, einem undurchsichtigen Chef namens Loki und der „Odinskirche“ herumschlagen muss, die mit dem Odin, den Frida kennengelernt hat, nicht mehr viel zu tun hat. Wie gewohnt eine temporeiche, gelungene Balance zwischen Witz und Grusel, die sich sehr schnell wegliest.

Ben Aaronovitch: Die Silberkammer in der Chancery Lane. Ein neuer Fall für Peter Grant. Was soll ich sagen? Der Autor weiß, wie Serien funktionieren, schreibt weiterhin spannende Krimis mit interessantem Weltenbau und beginnt im zweiten Band der zweiten Staffel nun einige Fäden zu verknüpfen, von denen zumindest zwei nicht gerade als nebeneinanderliegend erwartet werden.

Malika Mokeddem: Das Geheimnis der Mutter. Zeitgenössischer Roman um die Ärztin Selma, die als junge Frau von Algerien nach Frankreich ausgewandert ist. Nach dem unerwarteten Tod einer Patientin erinnert sie sich daran, dass sie als Kind beobachtete, wie ihre Mutter ein Neugeborenes mit einem Kissen erstickte. Auf einer Reise ins Dorf ihrer Kindheit sucht Selma Antworten und reibt sich wie schon als Kind an dem Schweigen wund, das die dortigen Sitten den Menschen abverlangen.

Claudia Bierschenk: Land ohne Verben. Autobiographie. In zahlreichen lebendigen Miniaturen erzählt die Autorin von ihrer Kindheit in den 1980ern „drüben“ in Thüringen. Die Familie wohnt nicht weit von der innerdeutschen Grenze, „dem Zaun“, und auch hier reibt sich ein Kind an all dem wund, was nicht gesagt werden darf.

Judith Coffey und Vivien Laumann: Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen. Ein Buch, das definitiv einen Re-Read braucht. Deutschsprachige Menschen haben ein etwas merkwürdiges Verhältnis zum Wort „Antisemitismus“ – oftmals wird eher diskutiert, was ein Antisemitismus-Vorwurf bezweckt, als dass über den Inhalt der ursprünglich kritisierten Aussage reflektiert wird. Und das ist, von außen und aus jüdischer Perspektive betrachtet, so symptomatisch wie peinlich. Daher: Lest dieses Buch.

Candice Carty-Williams: Queenie. Gesellschaftsroman. Die titelgebende Queenie lebt in London, ist Schwarz, 25 und wurde von ihrem langjährigen (weißen) Freund auf „Beziehungspause“ gesetzt, weil der sie „zu anstrengend“ findet. Gleich zu Beginn fällt auf, dass sie so anstrengend gar nicht sein kann. Denn als sie per Zufall bei einer gynäkologischen Routinekontrolle erfährt, dass sie vor Monaten eine Fehlgeburt erlitten hat, sagt sie zum Kindsvater: nichts. Stattdessen sucht sie Ablenkung in Sexkapaden, die ihr nicht guttun, und fängt sich auf Arbeit einen hartnäckigen Verehrer ein, der sie am Ende beinahe den Job kostet. Wie sich Queenie aus diesem Schlamassel befreit, ist zwar mit trockenem Humor beschrieben, empowernd und spannend bis zur letzten Seite, aber am Ende bleibt ein tiefgreifendes Unbehagen über den Zustand der Welt allgemein und den weißer Menschen im Besonderen.

Tobias Ginsburg: Die letzten Männer des Westens. Antifeminismus, rechte Männerbünde und die Krieger des Patriarchats. Ein Sachbuch. Der Autor hat zu dem konservativ-rechten-christlichen Filz recherchiert, der am liebsten wieder in den 1950ern leben würde (oder noch früher). Die von ihm beobachteten und undercover interviewten selbsternannten Verteidiger des Abendlands und der echten Männlichkeit sind gleichzeitig bemitleidenswert und saugefährlich.

Olivia Kuderewski: Ha ha Heartbreak. Roman. Das Buch wurde mir vom Verlag zugesandt, da ich mit der Autorin eine gemeinsame Veranstaltung zu wuppen hatte. Wahrscheinlich hätte ich es nicht gekauft, aber es hat sich trotzdem gelohnt, es zu lesen. Die namenlose Ich-Erzählerin hat eine schmerzhafte Trennung (und eine nicht so rosige Beziehung) hinter sich. Wie sie sich neu sortiert und nebenbei ihre Sozialisation überdenkt, überfällt die Lesenden mit einem Stream of Consciousness, der einen nicht zu verachtenden Sog entwickelt.

Christian Meyer: Flecken. Roman. Das Buch wurde mir vom Verlag zusammen mit Olivias Buch zugesandt, weil sie dachten, ein ace Protagonist könnte mich vielleicht interessieren. Und ich fing an zu lesen in der festen Überzeugung, dass ich da nachher eine total ausführliche und wohlwollende Besprechung verfassen würde. Es sollte anders kommen. Obwohl da ein Ace drin ist und ich Sarkasmus üblicherweise zu schätzen weiß, wurde ich mit dem Protagonisten und seiner herablassenden Art nicht warm genug, um mehr als ein Viertel des Textes zu schaffen. Sorry!

Patricia Eckermann: Elektro Krause. Roman. Eine äußerst kurzweilige Geisterjägergeschichte um neue und tote Nazis, mit denen sich eine Afrodeutsche Elektrikerin im Sommer 1989 rumschlagen muss. Mit einem Schuss Queerness. Ja, hier steht nicht viel, weil Elektro Krause halt das ist, was ich unter bester Unterhaltungsliteratur verbuche: Machte sehr viel Spaß, ohne mich gefühlsmäßig oder intellektuell zu überfordern. Könnte einen zweiten Band vertragen.

Plus, wie immer, eine Riesenmenge Fanfiction.

#Bücherhamstern, zum Zweiten

Neben einer Heft-Edition folgt nun die Edition Rechts der Mitte.

Noch nicht gekauft, da hoffentlich signiert zu erwerben, ist Eine Socke namens Rechts von Christian von Aster und Sabine Klotzsche. (Was soll ich sagen? Ja, schon wieder von Aster. Denn: Asti macht geilen Scheiß.)

Ein Interview in der Siegessäule machte mich auf Tobias Ginsburgs Die letzten Männer des Westens aufmerksam. Auch das werde ich wohl kaufen und dann allen geben, die es brauchen können. Wobei Männlichkeitskult, Heldentum und Faschisten bzw. Diktatoren, die nicht zugeben würden, dass sie Faschisten oder Diktatoren oder sogar beides in Personalunion sind, zumindest für meineeine bereits zusammenhängen — einer von denen hat zwei Grenzen weiter eine Invasion vom Zaun gebrochen, die seine Untertanen nicht „Krieg“ nennen dürfen. (Theoretisch wären es ja russische Staatsbürger*innen, aber Vlad the Bloody II. Putin hätte wahrscheinlich nichts dagegen, zum Zar ernannt zu werden. Ein wenig in die ähnliche Richtung argumentiert das Nollendorfblog: „Warum Europas Freiheit am Tampon-Behälter im Männerklo verteidigt wird“)

Apropos Bücher brauchen.

Der weiße Fleck

Bereits verliehen ist Der weiße Fleck von Mohamed Amjahid, nachdem sich eine Person meines Vertrauens ungläubig zum ZDF-Film über die Wannsee-Konferenz äußerte. Wie Menschen andere so entmenschlichen könnten. Ich hatte mich nicht gewundert, was einerseits einem gewissen Zynismus geschuldet sein dürfte, zum anderen der Tatsache, dass ich den von dieser Person regelmäßig ausgeliehenen FOCUS mehr deswegen lese, um zu wissen, für wie politisch mittig sich der Mainstream hält. (Antwort: Sehr. Aber ist er es auch?)

Ins selbe Horn tuten Anne Ottos Woher kommt der Hass? (sind wir nicht alle ein bisschen autoritär?) und zumindest auch dem Titel nach der leider nicht mehr bespielte Gjallarhorn-Weblog bzw. Odins Auge des Nornirs Aett.

#Bücherhamstern, zum Ersten

Ich bin an diesem Nicht-so-richtig-Buchmesse-Samstag hoffentlich viel unterwegs, daher also ein wenig früher:

Weil ich schon immer Probleme hatte, mich an Vorgaben zu halten (vor allem im Kunstunterricht), geht mein erstes #bücherhamstern-Posting gar nicht zu Büchern, sondern zu Heften.

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MaroHefte Nummern 2 und 1 von links. Freiwillig zensiert, obwohl eigentlich nichts zu sehen wäre, das irgendwie pornös ist.

Der MaroVerlag macht nämlich nicht nur Bücher, sondern seit Kurzem auch zweimal jährlich schicke Hefte mit einem Essay und passender Kunst dazu.

Empfehlen kann ich vor allem die Nummer 2: „Das Jungfernhäutchen gibt es nicht“ und nicht nur wegen des genialen Titels die Nummer 1: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoa-Bällchen“.

Zwei völlig verschiedene Themen, beide aber zum Nachdenken. In einem Fall über den eigenen Sprachgebrauch — nicht nur über Jungfern und Jungfrauen und angeblich zugehörige Häute, sondern auch über die Frage, wie viel Scham in die Anatomie des menschlichen Schritts gehört.

Im anderen Fall hinterfragt eins hoffentlich später das eigene „ökige“ Konsumverhalten — und den Kapitalismus im Allgemeinen.

Gelesen 2021

Die alljährliche Aufstellung, falls wer noch Impulse abseits der Auslagen in großen Buchläden sucht.

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Pirate Aba: The Wandering Inn 1 & 2The Wandering Inn ist eine Webserie, die noch nicht beendet wurde. Die fertigen Staffeln gibt es auch als E-Bücher, was nett ist, wenn eine nicht am leuchtenden Bildschirm lesen möchte. Die Grundidee ist genial: Eine Gruppe Magier holt Menschen aus der uns bekannten Welt in eine Welt voller Level. Und so wird Erin, die Protagonistin, einfach nur dadurch [Innkeeper Level 1], indem sie in einem verlassenen Wirtshaus die Tische abwischt. Nebenbei gibt es noch Skills/besondere Fähigkeiten zu erwerben. Der erste Teil liest sich locker weg, obwohl er zwischen mehreren Ich-Erzählstandpunkten und mehr oder weniger Allwissender Perspektive hin und her schwankt. Bei Teil 2 stört mich die Serien- und Compterspieltendenz zu noch größeren und gemeineren Schurken/Gefahren, die ohne schönes Foreshadowing auftauchen, außerdem schwankt die Autorin zwischen teilweise extemer Ernsthaftigkeit und dann wieder völliger Albernheit. Nichts gegen Comic Relief, aber so ein bisschen sollte es dann doch zusammenpassen. Daher Teil 2 nicht beendet, obwohl die Antinium das interessanteste „Volk“ sind, das mit seit Langem in der Fantasy begegnet ist.


Diverse/Unbekannt, herausgegeben und übersetzt von Rudolf Simek et al.: Sagas aus der Vorzeit – Von Wikingern, Berserkern, Untoten und Trollen, Band 1: Heldensagas und Band 2: Wikingersagas. — Eine Übersetzung altnordischer Sagas, die vom 12. bis zum 14. Jahrhundert enstanden sind. Mit Unterbrechungen gut lesbar.

Dass altnordische Helden sich einen Namen mit Plünderungen und Kriegen gegen andere Kleinkönige machen und häufig unter dramatischen Umständen sterben, weil sie sich zwischen zwei Verpflichtungen aufreiben, passt nicht zum heutigen Bild von Heldentum. Als Zeitzeugnisse und Hinweise auf die damalige Mentalität (und darauf, was im skandinavischen Hochmittelalter als eine gute Geschichte galt), sind die Heldensagas äußerst interessant. Für Suspense taugen sie in der Postmoderne kaum — am Ende sind alle tot. Diesbezüglich am spannendsten ist die Völsungensaga, und deren Ende war mir leider bereits bekannt. Ansonsten: Hätten Sie’s gewusst? Siegfried der Drachentöter hat dunkle Locken und starke Wangenknochen. Und über Ivar „den Knochenlosen“ darf zumindest als Sagafigur spekuliert werden, ob er ein Ace war.


Jennifer Hauff: Verschnitt — Medizinthriller. Ein alternder Medizinprofessor leidet unter seltsamen Krankheitszeichen. Ein Grund für ihn, seine Forschungen weiter zu forcieren: Geschlecht sei reine Erziehungssache. Das will er mit „Vereindeutigungs“-Operationen und Hormongaben an Kindern mit Intersexualität beweisen. Eine OP-Assistentin kreidet ihm den Verlust ihrer geliebten Schwester an — vergiftet sie ihn? Und wieso hat der Bruder der OP-Assistentin noch eine Rechnung mit ihr und dem Prof offen? Die drei Fäden sind dicht verwoben, bis zum spannenden und nicht vorhersehbaren Schluss.


Wendelgard von Staden: Nacht über dem Tal. Eine Jugend in Deutschland — Autobiographie einer Landadeligen von quasi gleich um die Ecke, oder, um mit den Worten meiner Mutter zu sprechen: „Hast du gewusst, dass in Vaihingen ein KZ war?“ (Vahingen/Enz, und ja, das wusste ich schon vorher, man begegnet auf dem Weg zum Bahnhof den Wegweisern zur Gedenkstätte). Sprachlich schlicht, aber nachdrücklich berichtet die Autorin von 1940 bis 1946. (Siehe auch zugehöriger Blogpost.)


Mithu Sanyal: Identitti — ein Roman über Identitäten und Rassismus mit einem Klecks Phantastik. So saugeil, dass ich nur wortlos und begeistert mit den Armen rudern kann. Das Buch ist mit Post-its versorgt und wird sicher noch einmal gelesen — wozu ich als Erwachsene sonst selten den Drang verspüre.


Christian von Aster: Die wahrhaft unglaublichen Abenteuer des jüdischen Meisterdetektivs Shylock Holmes und seines Assistenden Dr. Wa’tsun — eine Conan-Doyle-Pastiche, die es nur für die Startnext-Finanzierenden gab. Äußerst unterhaltsam, dabei lebensklug und mit mehr Überraschungen, als ein Kampfkrake Arme hat.


Saxo Grammaticus: Gesta danorum/Die Geschichte der Dänen — was auf dem Titel steht. Übersetzt von Paul Herrmann und Carl Knabe. Im zweiten Anlauf diesen eher unübersichtlichen und schwerfällig erzählten Mix aus Mythologie, Sagastoffen und etwas echter Geschichtsschreibung geschafft. Aber was will eine von einem mittelalterlichen Mönch, der schon in der Einleitung schreibt, dass er eigentlich keinen Bock drauf hat, weil er so was nicht kann? Notiert unter Zeugs, das der damalige Bischof wohl besser an wen anders delegiert hätte.


Joanne M. Harris: Runemarks — dystopische Fantasy. Wir sind in England, fünfhundert Jahre nach Ragnarök. Eine neue Gesellschaft hat sich aus den Ruinen der Neuzeit erhoben, das Technologielevel ist etwa auf dem Stand unseres 17. Jahrhunderts. Die vierzehnjährige Maddy ist mit einer „Runemark“ geboren und hat einen guten Draht zu Magie und Übernatürlichem, weshalb sie den restlichen Dorfbewohnenden suspekt ist. Und dem „Order“ sowieso. Dessen nummerierte Agenten vertreten die neue Staatsreligion. Dazu noch ist Maddy mit dem Landstreicher Old One-Eye befreundet. Als der beschließt, mit Maddys Hilfe den Schatz unter einem Hügel im Umkreis des Dorfes zu heben, kommt es zu einer Konfrontation zwischen alten und neuen Gottheiten — Ragnarök ist vielleicht noch lange nicht zu Ende.

Spannend und wendungsreich nutzt die Autorin Ideen aus der nordischen Mythologie. Gute Unterhaltung, die aber bei mir keinen nachhaltigen philosophischen Eindruck hinterließ.


Patrick Geary: Europäische Völker im Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen — ein Sachbuch, das enthält, was draufsteht. Der Autor, ein Historiker für Spätantike und frühes Mittelalter, untersucht den Begriff des „Volks“ von Herodot bis Karl dem Großen. Und stellt fest, dass sich unter dem gleichen Namen (wie „Franken“) über die Zeit verschiedenste Konzepte und Menschen verbergen. Falls also wieder irgendwer behauptet, dass „die Deutschen“ seit Jahrhunderten, wenn nicht seit der Antike irgendwie die gleichen Menschen mit den gleichen Idealen sind: Dieser Text beweist das Gegenteil.

Bevor die Quellen editiert werden konnten, musste man einen Kanon jener überlieferten Aufzeichnungen erstellen, die tatsächlich als Quellen deutscher Geschichte gelten konnten. Das heißt, man musste definieren, was „Deutschland“ in der Vergangenheit bedeutete, und diese Vergangenheit als Vor- und Frühgeschichte deklarieren. Die Herausgeber der Monumenta erfüllten diese Aufgabe, indem sie sämtliche Texte aus oder über Regionen erfassten, in denen germanisch sprechende Völker gesiedelt oder geherrscht hatten.

Es hätte somit auch anders ausgehen können mit dem Deutschtum …


Ben Aaronovitch: What Abigail Did That Summer — Urbane Fantasy, Kurzroman. Hier channelt der Autor auf sehr sympathische Weise eine dreizehnjährige, nerdige „mixed-race“ Besserwisserin und schickt sie mit sprechenden Füchsen auf die Suche nach einigen vermissten Teenagern. Wie alles von Ben Aaronovitch spannend, unterhaltsam, mit unaufgeregter LGBTIA+-Repräsentation und auf eine angenehme Weise die Sehgewohnheiten hinterfragend.


Johannes Kram: Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber … — das Sachbuch beschäftigt sich damit, wie Schwulen- und Homosexuellenfeindlichkeit im 21. Jahrhundert aussieht, und wie sie sich in der Frage „Was wollt ihr denn noch alles?“ manifestiert. Als sei es der Job sexueller Minderheiten, für jeden Klecks menschenwürdiger Behandlung dankbar zu sein.


Anja Bagus: Die Zeitarbeiterin — episodenhaft erzählter Roman um eine Studentin, die aus Geldnot bei einer Zeitarbeitsfirma anheuert und dadurch den merkwürdigsten Menschen begegnet. Außer ihrem einen Kollegen, den findet sie vielleicht etwas zu gut.

Diese autobiographisch angehauchte Erzählung ist leider viel zu schnell rum, denn Mia und ihre Kolleg*innen sind zumindest mir sehr ans Herz gewachsen, von denen hätte ich noch fünfzig Seiten mehr vertragen.


Isa Theobald: Anouk 2 – Sterben bringt Glück. — Zweiter Teil der Urban-Fantasy-Serie um Anouk, Sukkubus und Vollstreckerin des Kuratoriums. Zwischen dem unvermeidbaren Haufen Sexszenen drückt Isa Theobald gehörig aufs Tempo und schafft einen Pageturner mit interessantem Weltenbau und einem Haufen sympathischer, aber teilweise undurchsichtiger Figuren. Es lohnt also, den etwas holprigeren ersten Teil der Serie zu lesen. Der ist, wie bereits erwähnt, ebenfalls zum Wegsuchten, aber die Exposition hat eine kleine Lücke.


Bernhard Stäber: Wächter der Weltenschlange – Midgards Schild. — Zweiter Teil der letztes Jahr begonnenen Urban-Fantasy-Duologie. Wir folgen Malin und Rune, die den letzten Nachkommen der Weltenschlangen zum Nordkap bringen müssen. Dabei werden sie weiterhin von drei Disen verfolgt, die den Weltenbrand zu verhindern suchen. Außerdem ist noch mindestens eine weitere Partei an dieser Reise interessiert.

Mit diesem Buch hat die Duologie einen würdigen und sehr stäber-esken Abschluss bekommen: Wer offene Fragen nicht mag und gern romantische Klischees bedient sieht, wird mit dem Text nicht glücklich. Alle anderen erleben einen zauberhaften Streifzug durch die Mythen und Sagen der Norweger und Saami und müssen sich Fragen nach Schicksal, Vorbestimmung und freien Entscheidungen stellen.


Anette Juretzki: Sternenbrand (1: Blind und 2: Blau) — Space Opera in zwei Teilen. Dass mir Deutschsprachiges begegnet, das wie Albenbrut aus Platznot in zwei Teilen erscheint, kommt auch selten vor. In Sternenbrand treffen wir eine Söldnercrew auf der Suche nach Hinweisen auf den Verbleib der rätselhaften „Phantome“, die vor hundertfünfzig Jahren beinahe die Galaxis verwüstet hätten.

Neben einer verwickelten Liebes-Dreiecksgeschichte um drei männliche Wesen serviert die Autorin einen schönen Weltenbau und einige Wendungen, die ich so nicht erwartet hätte. Grundsätzlich ist es aber noch M/M bzw. „Gay“, daher für Menschen nicht zu empfehlen, die ihre SF lieber ohne viel Liebesgeschichte haben.


N. K. Jemisin: The City We Became — der Auftakt zu einer neuen phantastischen Serie, wobei ein Argument zu führen wäre, dass es sich um Horrorliteratur im besten Sinne handelt. Diesmal entführt uns N. K. Jemisin ins heutige New York City. Das wird gerade zu einer eigenständigen Entität und sucht Avatare. Doch eigenständige Städte bedrohen ihre Gegenstücke in den Paralleluniversen, daher fährt die „Frau in Weiß“ ihre Tentakel aus, um die Stadtwerdung zu verhindern …

Ganz wie bei dieser Schrifstellerin zu erwarten, treffen wir hier keine einfache Urban Fantasy mit den üblichen Versatzstücken wie Werwesen, Blutsauger*innen und dämonischer Unterwelt, sondern ein Problem auf einer weit kosmischeren Skala mit einigen Lovecraft-Anleihen. Wobei sie hier beweist, dass, egal wie schräg die nicht-euklidische Geometrie wird, die ganz normalen menschlichen Abgründe weitaus gruseliger sind.


Dana Brandt: Die Hüterin – Scheiß auf Schicksal — Urbane Fantasy. Eine junge Frau in wirtschaftlichen Nöten findet einen Ring, der sie zur Hüterin der Magie Europas macht. Und hat erst mal keine Lust auf diese Halluzination …

Neben einer erfrischend fluchenden Heldin, die keine sein will, und einigen wirklich charmanten Nebenfiguren (unter anderem Bäume, die beim Kartenspiel schummeln), treffen wir auf einen interessanten Weltenbau. Sich erneuernde Magie, Zaubereibegabte, die mit den Magiewesen im Clinch liegen und alles tun würden, um die neue Hüterin klein zu halten … Wer keinen allzu großen Wert auf wenig Flüche und makellose Grammatik legt, ist hier sehr gut unterhalten.


Lee Bardugo: Shadow and Bone, Siege and Storm, Ruin and Rising (erste GrishaVerse-Trilogie) — Lee Bardugo sagt von sich selbst, dass sie „Tsarpunk“ (im Vergleich zu Steampunk) verfasst hätte, was ungefähr passt. Wir treffen russische Einflüsse (von der Gesellschaft bis zu einigen Märchen-, Geschichten- und historischen Anleihen wie Rasputin) in einer einnehmenden High-Fantasy-Welt, in die einst ein mächtiger Grisha (Zauberer) ein Loch aus Dunkelheit gerissen hat. Dort vernichten drachenartige Wesen jedes Leben, und der Riss breitet sich zudem immer weiter aus.

Hoffnung auf ein Ende dieser Plage keimt im Zarenhaus auf, als sich die junge Soldatin Alina als Sonnenbeschwörerin herausstellt. Sie wird aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und soll nun im Palast der Grisha ihre Kunst perfektionieren. Doch so einfach ist das alles nicht, denn sowohl der oberste Grisha als auch ein undurchsichtiger Priester am Zarenhof haben eigene Pläne.

Die Trilogie liest sich dank eines meisterhaft gesetzten Tempos und konstant gehaltener Spannung ratzfatz weg. Obwohl es „Young Adult“ ist, sind die moralischen Fragen, vor denen Alina steht, alterslos.


H. P. Lovecraft: diverse Versuche mit Kurzgeschichten und Schatten über Innsmouth (nicht beendet). — Eventuell bekomme ich noch raus, was außer dem Konzept von kosmischen Tentakelpriestern an Lovecraft so toll sein soll. Die Weite des Weltalls find ich offenbar nicht gruselig genug. Und über den aus jeder Zeile tropfenden Mittelschicht-Chauvinismus mit extra viel Rassismus kann ich mich zwar gruseln, aber ich habe das genug in live (siehe AfD-Wahlplakate), und so schön ist die Sprache dann doch nicht, dass ich darüber hinwegsehen kann.


Mary Renault: The Charioteer — schwules Coming-of-Age im Weltkrieg. The Charioteer ist ein Klassiker der schwulen Literatur und erstmals 1953 erschienen. Wir treffen den kriegsversehrten Laurie, der sich in einen Kriegsdienstverweigerer verliebt, der im Militärkrankenhaus Pflege-Ersatzdienst ableistet. Nebenbei trifft Laurie einen alten Schulkameraden wieder, für den er vor Jahren geschwärmt hatte. Wen Laurie hinterher abkriegt, wird nicht verraten, aber es gibt ein Happy End — eine Seltenheit für schwule Literatur aus der Zeit.

Der Roman hätte ein typisches Melodrama von einer Dreiecksgeschichte werden können, aber dafür setzt Mary Renault die Akzente zu dezidiert auf die Frage nach Identität und Community. Eine gemeinsame Verfolgung und/oder eine gemeinsame Marginalisierung wirft uns mit allerlei Menschen in eine Gruppe, mit denen wir sonst keine Gemeinsamkeiten haben. Egal um welche Minderheit es sich handelt. Inwieweit muss/will eins solidarisch sein? Muss ich diese Leute mögen? Muss ich mich zuerst als Teil der Minderheit verstehen und dann als etwas anderes? Und was unterscheidet eine beliebige ausgegrenzte Gruppe von einer Community? Diese Fragen sind, wie sich zeigt, zeitlos. (Referenz auch dazu die Talk-Serie Community, quo vadis? von 100 % Mensch.)


Ria Winter: Der Feuervogel von Istradar — Slavic Fantasy. Eine Diebin mit Meinungen zur Politik und eine Palastwächterin in Istradar begegnen sich, als die Diebin versucht, im Palast etwas zu stehlen. Der berühmte Feuervogel von Istradar ist jedoch schon Monate vor dem Einbruch aus der Schatzkammer verschwunden. Weil die Wächterin meint, dass die Diebin etwas darüber weiß, spioniert sie ihr hinterher. Aber der Feuervogel ist unauffindbar und die politsche Lage spitzt sich zu — ohne Feuervogel keine Allianz mit dem Zaren. Damit ist Istradar von einem Krieg bedroht. Nebenbei kommen sich die beiden Frauen langsam näher.

Der Roman ist spannend und liest sich schnell. Neben dem überzeugenden Weltenbau, der mit seinen slawischen Einflüssen für die hier stilbildende angloamerikanische Fantasy eher rar ist, bestechen vor allem die liebenswerten, runden Nebenfiguren und die zahlreichen hübschen Wendungen.


Christian von Aster und Holger Much: Das Koboltikum — Illustrierte phantastische Anthologie. Christian von Aster hat hier einige Kurzgeschichten und Balladen über Kobolde versammelt. Die sind oft schräg — sonst wäre es nicht von Aster — manchmal fies, manchmal komisch und manchmal liebenswert. Dazu hat Holger Much die Kobolde, wie immer detailverliebt und zauberhaft, illustriert.


Alice Oseman: Loveless — Coming-of-age/Young Adult. Die achtzehnjährige Georgia ist zum Schulabschluss noch ungeküsst und will im ersten Semester an der Uni dringend etwas daran ändern. Schließlich möchte sie nicht Loveless sein — ohne Liebe. Dazu bittet sie ihre feierfreudige Mitbewohnerin Rooney um Rat. Alles gerät außer Kontrolle, als Rooney auffällt, dass Georgias bester Kumpel in sie verliebt ist, und Georgia ermuntert, da etwas draus zu machen.

Es folgt eine asexuelle Selbstfindung mit Irrungen fast Shakespear’schem Ausmaßes, viel Humor, klugen Gedanken über die Liebe und einem völlig unromantischem Happy End, das ich totzdem zum Seufzen schön finde. Der Stil ist locker-flockig, Oseman beherrscht ihre Spannungsbögen, und zeichnet außerdem liebevoll runde Figuren, die ich einfach umarmen will.


Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit — kongeniale Aufbereitung der Menschheitsgeschichte. Von der Sprache über die Religion zum Ackerbau bis zum Kapitalismus: Harari zeigt Entwicklungen auf, die mein Geschichtsunterricht nie so thematisiert hat und befragt moderne Mythen auf ihren Gehalt. Was bietet eigentlich der Monotheismus für Vorteile, wenn Sie ihn nicht als gläubige Person verteidigen? Sind Nationalstaaten wirklich eine Errungenschaft, wie ich es noch in den späten 1990ern gelernt habe? (Siehe auch Geary oben.) Wie groß ist der Unterschied zwischen Religionen und Ideologien tatsächlich? Warum funktionieren Staaten heute anders als Imperien im Altertum? Ist ein naturnahes Leben in einem Stammesverband wirklich gewaltloser und erstrebenswert? Etc.

Wir reden noch immer von „ursprünglichen“ Kulturen, aber wenn wir mit „ursprünglich“ etwas meinen, das sich unabhängig entwickelt hat, uralte regionale Traditionen verkörpert und nicht von außen beeinflusst wurde, dann gibt es das heute nicht mehr. In den vergangenen Jahrhunderten haben sich sämtliche Kulturen unter einer Flut globaler Einflüsse bis zur Unkenntlichkeit verändert.


Askin-Hayat Dogan und Sarah Stoffers (Hg.): Urban Fantasy going queer — Kurzgeschichtensammlung. Die Herausgebenden baten 23 offen queere Schreibende deutschsprachiger Fantasy um eine Kurzgeschichte. Urban sollte es sein, und am besten noch aktuelle gesellschaftliche Themen aufgreifen. Daher dreht sich in dem Sammelband nicht alles um Queerness. Was der Qualität der Geschichten aber keinen Abbruch tut. Zwischen klassischen Werwolf-Krimis und richtig originellem Zeug, mal mit gutem, mal mit fiesem Ende bewegen sich sehr unterhaltsame und oft nachdenkliche Geschichten.


Kübra Gümsay: Sprache und Sein — ein Versuch, die Grenzen der Sprache auszuloten. Was bedeuten bestimmte Perspektiven? Wo errichtet die Sprache der Mehrheit Wände für Minderheiten? Wo hindert uns Sprache am Sein, wo ermöglicht sie es erst? Was bedeutet es, durch Sprache in eine Objektposition gedrängt zu sein? Und wie erreichen wir, dass alle frei sprechen können?

Ein kluger Text über Ausgrenzung und Teilhabe, den ich nur weiterempfehlen kann. Und den ich wahrscheinlich des Öfteren zitierenn werde, denn auch an pointierter Formulierkunst mangelt es keineswegs.


… und wie immer kam dazu ein Haufen Fanfiction. Manche davon sehr klug. Hauptsächlich diente selbige Lektüre der Realitätsflucht in den stimmungsmäßig miesen Phasen: Kein Corona, wenig Heten, Happy End garantiert.

Ansonsten ist einiges angefangen, aber noch nicht fertig. Im Gegensatz zu 2021. Guten Rutsch also.

 

Loki, oder: vom Queerbaiting

 

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Sieht nicht aus wie in der Serie: Loki aus einem isländischen Manuskript, 18. Jahrhundert

In meiner Nische des Internets schlugen die Wellen hoch, als im Trailer für die Marvel-Miniserie Loki (bei Disney+) ein Steckbrief der namensgebenden Hauptfigur zu sehen war. Darin stand: „Gender: Fluid.“

Endlich versprache die Oberen bei Disney genau die Diversität, die seit dem Mittelalter Kanon ist! Der echte Loki Laufeyason ist ja mindestens die Mutter eines Pferdes mit acht Beinen und war laut Vorwürfen seitens Odin Allvaters als Amme tätig.

Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass der Marvel-Loki nicht mit einer Gottheit identisch ist, der diverse heidnische Menschen Alkoholika opfern. Trotzdem mag ich die Marvel-Figur (und FrostIron-Fanfiction ist sowieso seit 2012 mein Kryptonit), weshalb ich Geld für ein Abo ausgab, um die Serie anzuschauen.

Da ich niemanden mit meiner Meinung spoilern möchte und ich außerdem eine CN: Genozid, Suizidversuch habe, bei Interesse bitte hinter dem Link weiterlesen. Weiterlesen

Gelesen 2020 – zweites Halbjahr

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Weiterhin viel gelesen, da viel weniger Termine. Weil blöderweise das beste Suchtmittel des Jahres von einem Mann stammt (hust, Ben Aaronovitch, hust) war das mit den ausgewogenen Quellen zumindest bei der ernsthaften Literatur nicht zu machen. Glücklicherweise ist ja die meiste Fanfiction von Frauen verursacht und hat einen erhöhten Anteil an Buchstabensuppen-Autor*innen, sodass ich mir ingesamt zumindest im Bereich Gender keine Gedanken machen muss.

Fiktionales

Diverse: Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Apostelgeschichte. Übersetzung von Martin Luther, 1998 sprachlich leicht modernisiert.

Ich hatte einen Rappel und dachte, wenn ich schon am Christentum rumkrittle, dann muss ich auch wissen, was ich da bekrittele. Und nicht nur ausgewählte Zitate. Matthäus wirkt ein wenig konfus. Markus dagegen kommt — bis auf die Sache mit der Auferstehung — sehr journalistisch rüber und ergibt insgesamt mehr Sinn. Anscheinend sind hier alle Widersprüchlichkeiten in Jesu Predigten geschickt rauseditiert worden. (So es diesen Jesus überhaupt gab und da nicht einfach eine Bande Endzeit-Propheten ihren Gründungsmythos in dieser Figur geschaffen hat.) Lukas hat einen Hang zur Fabulierlust, dass es eine Freude ist, wenn eine denn das nicht alles glauben muss, was er schon in der Einleitung an Garn zusammenspinnt über Maria, Elisabeth, Johannes den Täufer und allerlei mehr. Johannes versucht sich in Evangelium und Apostelgeschichte gefühlt an einem stilistischen Mittelding zwischen Markus und Lukas.

Jedenfalls spricht mich diese zweitausend Jahre alte Endzeitstimmung mit ihren für mich teils widersprüchlichen Forderungen nicht so richtig an. Soll ich nun vor allem Gott und meine Nächsten lieben, Gott dienen oder an an ihn glauben? Ist das alles eins, oder wie? Die Annahme, dass der Mensch von Grund auf schlecht ist, das ist auch nicht so mein Ding. Vgl. dazu Good Omens: Menschen sind vor allem von Grund auf Menschen. Ethisch gesehen sind in den Predigten ein paar sinnvolle und nachdenkenswerte Sachen dabei, die den Erfolg der ganzen Angelegenheit erklären (plus die geile Geschichte dazu, die damals in bekannte mythologische Kerben schlug). Nicht zuletzt die wichtigste Sache überhaupt — Nächstenliebe ist, konsequent durchgezogen, wie der Kant’sche Imperativ, extrem schwer umzusetzen. Und am Ende das einzig Wichtige, zumindest was den Rest der Menschheit angeht. Prosozial zu handeln und tatsächlich die gesamte Menschheit als die Sozietät anzuerkennen, für die gehandelt werden muss? Wer kriegt das schon hin? Aber es lohnt den Versuch. Anscheinend gibt es Menschen, die sich das mit der Rücksicht erst überlegen, wenn sie annehmen, dass ihnen irgendwer über die Schulter schaut und sie am Schluss belohnt oder bestraft. (Nennt sich autoritäre Erziehung?)

Dafür, dass das Christentum befreien soll, benutzt der Religionsstifter aber sehr oft Gleichnisse mit „Knechten“ (Sklaven), die offenbar auf ihre Befreiung im Himmelreich warten müssen. Bzw. sind sie dann ja freiwillig Knechte Gottes? Fragen über Fragen.

Jesus war offenbar Kind seiner Zeit. Damals war eine Welt ohne Sklavenhaltung schlicht undenkbar, und die längste Zeit der historischen Aufzeichnungen haben Menschen andere Menschen versklavt.  Einen theologischen Überbau zum Kant’schen Imperativ benötige ich nicht. Typen, die sagen, dass es nur eine Wahrheit und eine Interpretation gibt? Kann ich nicht brauchen. Und Leute, die mir einen Mythos als historische Wahrheit verkaufen wollen, auch nicht.

Stephan Grundy: Attila’s Treasure und Rhinegold — historische Fantasy. Attila’s Treasure ist uns als Wodans Fluch hier bei meinen Zusammenschrieben schon begegnet. Der junge Hagan (später Hagen von Tronje im Nibelungenlied) kommt als Friedgeisel an den Hof von Attila dem Hunnen und schließt eine Freundschaft, die ihn in einen Loyalitätskonflikt treibt. Die queeren Zwischentöne sind eine sehr geile Zugabe. Rhinegold zeichnet den Sagenkreis um das Rheingold und die Wölsungen als Fantasy-Roman nach. Das ist äußerst prächtig erzählt (und sehr lang).

Grundy verdient auch Anerkennung, weil er die gesellschaftlichen Verpflichtungen der Figuren nachvollziehbar macht. Was aus der nordischen und mittelhochdeutschen Dichtung so bei oberflächlichem Medienkonsum hängenbleibt, erlaubt ja kaum, die Motivationen der Figuren zu verstehen. Gebrochene Verlobungen, die aus gekränkter Stammesehre zum Krieg führen könnten? Kämpfe, denen die Helden der Völkerwanderungszeit nicht aus dem Weg gehen, statt Kompromisse zu suchen? Ein Leben, in dem man an einem Tag eine Edelfrau und am nächsten eine Sklavin sein kann, wenn sich das Kriegsglück wendet? Hier wird die vom Tod eines Otters in Gang gesetzte Handlung in all ihrer Unausweichlichkeit verständlich. Die Figuren können nicht aus ihrer Haut und ihrer Kultur, da braucht Wodan/Odin gar nicht so viel zu beeinflussen. Die Geschichte zeigt daher auch, dass jegliche Romantisierung der germanischen Stämme keinerlei historische Grundlage hat, und dass die individuelle Ehre zwar sehr nett sein kann, die Familienehre aber mitunter sehr tödlich.

Ben Aaronovitch: Die Flüsse von London, Schwarzer Mond über Soho, Ein Wispern unter Baker Street, Der böse Ort und Fingerhut-Sommer. Dazu vier ergänzende Graphic Novels — Urban-Fantasy-Krimis. Von der besten Alphaleserin der Welt empfohlen und ausgeliehen bekommen und nunmehr ebenfalls angefixt. Aaronovitch erzählt sehr witzig und mit einem genauen Auge für all die Dinge, über die sich die britische Gesellschaft in die Taschen lügt, von Constable Peter Grant. Der junge Polizist trifft eines Tages einen Geist, der einen Mord beobachtet hat. In der Folge wird Peter dem einzigen bekannten Magie Praktizierenden Englands — Detective Chief Inspector Nightingale — als Zauberlehrling zugeteilt. Wie Peter damit umgeht und dabei sein Noch-Nicht-Können kreativ gegen magische Kriminelle einsicht, ist prachtvoll zu lesen und daher für alle empfehlenswert, die keine Angst vor graphisch beschriebenen Leichen haben. Bonuspunkte für einen angenehm ausgewogenen Cast, was Geschlecht, sexuelle Orientierung und Hautfarben angeht, und für die Übersetzung, der man die englische Satzstrukturen nicht mehr auf den ersten Blick anmerkt.

Jodi Taylor: Doktor Maxwells chaotischer Zeitkompass — Zeitreise-SF. Zweiter Teil der im Frühjahr angefangenen Reihe. Wie immer galoppieren wir in einem Affenzahn die Geschichte rauf und runter und sind dabei nicht besonders tiefschürfend, aber mit viel Action unterhalten.

Akram El-Bahay: Bücherkrieg. Die Bibliothek der flüsternden Schatten 3 — Epic Fantasy nach fast wörtlicher Interpretation. Die ersten beiden Bände habe ich schon 2018 ausgeliehen bekommen, es fehlte noch der dritte und letzte Teil. Die Trilogie hat einen würdigen Abschluss erhalten, der mit dem einen oder anderen schönen Haken aufwartet.

Ben Aaronovitch: Geister auf der Metropolitan Line, Der Galgen von Tyburn, Detective Stories, Cry Fox, Water Weed, Die Glocke von Whitechapel — Krimi-Fantasy als Roman oder Graphic Novel. Mit der Glocke von Whitechapel hat die erste Staffel der Buchserie einen fulminanten Abschluss erhalten. Runtergesuchtet, daher habe ich sicher die meisten Zwischentöne verpasst. Weitergesuchtet habe ich mit Der Oktobermann — m. E. etwas zu kurz geraten, weshalb der neue Ich-Erzähler, Kriminalkommisar Tobias Winter, etwas flach bleibt. Aber in Deutschland wird die magische Verbrecherjagd jedenfalls behördlich besser organisiert als in London. Danach den ersten Band der zweiten Staffel (False Value), in dem Computing und Geister eine unheilige Allianz eingehen, und die Kurzgeschichtensammlung Tales from the Folly.

Ben Aaronovitch hat das Serien-Erzählen an Dr. Who geübt, das merkt das geneigte Publikum, und deswegen habe ich auch von „Staffeln“ geschrieben. Kaum hat eine „Cliffhanger“ gesagt, ist schon der nächste da. Neben äußerst liebenswerten Figuren, die oft nirgends so richtig dazugehören, finden wir eine äußerst reiche Fantasy-Welt, die einige Rätsel übrig lässt. Wieso altert Nightingale rückwärts? Warum zum Henker sind da sprechende Füchse unterwegs? Warum haben die Nazis die Genii Locorum der meisten deutschen Flüsse getötet? Und so weiter.

Luci van Org: Geschichten von Yggdrasil — Nordische Sagen neu erzählt. Und zwar so richtig neu. Keine schwülstige Ausformulierung des eddischen Materials, sondern mit der van Org’schen typischen Herangehensweise, also mit Humor und einem Sinn für Zwischentöne und Hintergründiges. Sodass Odin schon mal auf den Deckel bekommt, wenn er Freya Vorschriften machen will. Das ist oft liebenswert und eröffnet auf jeden Fall neue Blickwinkel, statt die x-te „Odin ist weise, Loki ist boshaft und Frigg eine duldsame Ehefrau“-Version zu bieten. Nicht alle van Org’schen Interpretationen decken sich mit meinen Eindrücken des Materials. Aber das ist halt mit guter Dichtung so: Hält ewig und bedeutet für alle ein bisschen was Unterschiedliches. Und das geilste ist: Poesie muss gar nicht nur eine Sache bedeuten! Wenn ich eine andere Meinung über Odin oder eine andere Gottheit habe, oder wenn Mythologie-Noobs Thor tatsächlich für Lokis Bruder halten: Was soll’s? Die halten das aus.

Isa Theobald: Anouk – Ein toter Djinn kommt selten allein — Urban Fantasy um einen schlagkräftigen Sukkubus. Wer Gewalt und expiziten Sex abkann, ist mit dieser Mischung aus Buffy, Lucifer und Dresden Files sehr rasant unterhalten, und dass hier weibliche Selbstbestimmung und Freundschaft statt der ewigen romantischen Liebe gefeiert wird, tut nebenbei auch gut.

Tracey Lindberg: Birdie — Zeitgenössischer Roman mit etwas magischem Realismus. (Was nur beweist, dass die Linie zwischen Gerne-Literatur und dem, das der Feuilleton feiert, sehr schmal sein kann.) Birdie ist eine junge Frau von der Kelly Lake Cree Nation in Kanada. Wir treffen sie zuerst, als sie in Lolas Bäckerei anheuert, nachdem sie sich selbst aus „der Anstalt“ entlassen hat. Nach und nach offenbaren sich dem Publikum ihre zahlreichen Verletzungen. Als sie selbst begreift, wie innerlich zerrissen sie ist, legt sie sich ins Bett, um eine Seelenreise durch ihr Leben zu beginnen. Begleitet wird sie in diesen schwierigen Wochen von Lola, ihrer Tante Val und ihrer Cousine Freda.

Der Roman erfordert auf dem ersten Drittel durch die zahlreichen Zeitsprünge ein bisschen Aufmerksamkeit. Eine auffindbare Content Notice würde manchen Menschen wahrscheinlich etwas Sicherheit geben. Gelohnt hat sich das Lesen auf jeden Fall. Lindberg erzählt spannend, obwohl an äußerer Handlung kaum etwas passiert, und sie lotet mit viel Mitgefühl Macht und Grenzen weiblicher Solidarität aus.

Die Fanfiction war wie immer sehr zahlreich. Fandoms: eine Prise Lucifer (TV-Serie), ein bisschen Jonathan Strange & Mr. Norrell (angefixt von der Serie, ich fand das Buch wesentlich weniger mitreißend), einiges an Rivers of London, und Unmengen Good Omens jeglichen Mediums. Die eigene Kontribution beschränkt sich auf eine kurze Good-Omens-Fiktion und etwa 5000 Wörter im James-Bond-Universum, die seit fast dreit Jahren auf der Festplatte lagerten.

Sachtext(e)

Angela Chen: Ace. Ausführliche Besprechung ist bereits erschienen.

Für den Beruf gelesen (Auswahl):

Martina Bilke: Auf einem Baum ein Kuckuck — Zeitgenössischer Roman. Habe nur die Korrektur gemacht, aber diese Geschichte der deutschstämmigen Ánaca aus Caracas, die ihrer früh verstorbenen Mutter und den Lücken in der Biographie der Großmutter hinterherforscht, ist eine Wucht zu lesen und kommt daher mit Empfehlung.